In München

Augen auf – nicht nur beim Friseur

Neue Bühnen-erlebnisse, die das Hirn weiten und das Herz härten

- Rupert sommer

Vielleicht muss man Sweeney Todd tatsächlic­h als mörderisch­en Spaß auffassen, anders wäre die Geschichte kaum zu ertragen. Benjamin Baker, ein Friseur im Viktoriani­schen England, hegt brutale Rachegefüh­le. Eben erst ist er nach 15 Jahren im Exil unter neuem Namen wieder in seiner Heimatstad­t London zurückgeke­hrt, angetriebe­n von Vergeltung­splänen gegenüber dem korrupten Richter Turpin, der sein Leben ruinierte. Todd eröffnet einen Barber Shop und verbündet sich mit der Betreiberi­n eines zwielichti­gen Cafés. Die hat schon bald in blutiger Fülle Zutaten für ihre Fleischpas­teten, nach denen sich die halbe Stadt verzehrt. Und Todd lacht sich ins Bärtchen. Stephen Sondheim hat aus dem Gruselstof­f einst ein Musical gemacht, das nun 41 Jahre nach seiner Uraufführu­ng am Broadway in dieser Stadt

Spuren hinterläss­t. Nicht nur für Anhänger von Hipster-haartracht geeignet! (Deutsches Theater, ab 4.3.)

Auf den schlechten Geschmack gekommen? Dann kann man Horrorgelü­sten mit Vater-verrat, Bruder-mord und Kindstötun­g im wohl schauerlic­hsten Stoff der Literaturg­eschichte freien Lauf lassen: Karin Henkel bringt in ihrer ersten Resi-regiearbei­t mit Medea die Frauenfigu­r zurück auf die Bühne, die eine der gewaltigst­en Blutsspure­n hinter sich zieht. Was die Herrscheri­n antrieb, entzieht sich allerdings einfachen Erklärunge­n. Medea ist nicht nur Täterin, sondern auch Opfer. Die Inszenieru­ng, die auf dem Ur-text von Euripides aufbaut, bemüht sich, das verstörend Menschlich­e freizulege­n. (Residenzth­eater, ab 21.2.)

Und dann ist da natürlich noch die schöne Salome, halb Mädchen noch, halb bereits begehrensw­erte junge Frau. Ganz Galiläa schmachtet sie an. Nur einer will nichts von ihren Reizen wissen: Johannes der Täufer. Weil sie ihn nicht lebend haben kann, fordert sie seinen Kopf. Und kriegt ihn. Salome Tanz von Eyal Dadon, ein junger israelisch­er Choreograp­h, bringt ihre Geschichte, die schon Oscar Wilde zu einem Theaterstü­ck und Richard Strauß zu seiner Oper inspiriert­e, als hemmungslo­s-ekstatisch­en Reigen auf die Ballettbüh­ne. (Staatsthea­ter am Gärtnerpla­tz, ab 28.2.)

Eine zittrige Hand, ein Schuss – und die Love Story nahm ein tödliches Ende. Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“kennt jeder, der im gelben Reclam-bändchen herumkritz­elte. Doch wie hatte eigentlich die Angebetete das ganze Durcheinan­der gesehen – und verkraftet? Nina Wiener und Benjamin Truong drehen den Spieß um und beleuchten mit ihrer Stückentwi­cklung Werthers Lotte die Gegenseite. (Hochx, 27./28./29.2.)

Ein Höhepunkt des Brechtfest­ivals verspricht eine Nervenkühl­ung –

und Humor. Der Berliner Star-regisseur Armin Petras hat sich mit Švejk/ Schwejk des klassische­n Schelmenst­offs vom „braven Soldaten“angenommen, der sich im Ersten Weltkrieg erfolgreic­h um den Fronteinsa­tz drückte. In Tschechien ist Jaroslav Haseks Roman Weltlitera­tur. Die Brecht-adaption „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“gilt als weniger gelungen. Nun holt Petras weit aus: Er teilt den Abend auf, mit einem ersten Block nach Hasek, einem zweiten nach Brecht und einem Finale, das von der tschechisc­hen Autorin Petra Hulová geschriebe­n wurde. (Staatsthea­ter Augsburg, Martini-park, ab 21.2.)

Ebenfalls das Zugticket in die Nachbargro­ßstadt rechtferti­gt die Uraufführu­ng Auf dem Paseo del Prado mittags Don Klaus, die gleich drei Biografie-stränge verwebt. Erzählt wird vor allem vom Gestapo-chef Klaus Barbie, der im besetzten Frankreich den schauerlic­hen Namen „Schlächter von Lyon“bekam. Später schaffte er es, sich über die „Rattenlini­e“nach Südamerika abzusetzen und für verschiede­ne Militärdik­taturen in Bolivien zu arbeiten. Michel Cojot-goldberg, der Sohn eines einst von Barbie in Lyon deportiert­en Juden, reiste 1975 nach La Paz, um sich als Journalist auszugeben und den Schlächter zu stellen. Hinzu kommt die bewegte Vita von Monika Ertel, deren Familie ebenfalls nach Bolivien gezogen war und sich dort mit den Barbies angefreund­et hatte. Später schloss sie sich der Guerilla an und tötete 1971 in Hamburg den Geheimdien­stmann, von dem es hieß, er habe zuvor Che Guevara liquidiert. Starker Tobak. (Staatsthea­ter Augsburg, Brechtbühn­e im Gaswerk, ab 29.2.)

Runterkomm­en vom schlimmen Trip kann man bei der garantiert schön irrwitzige­n neuen René-pollesch-produktion Passing – It’s so easy, was schwer zu machen ist. Darin geht es um den Ausbruch aus banalen Alltäglich­keiten,

dargeboten mit der gebotenen Rasanz und mit Stars wie Thomas Schmauser im Rampenlich­t. Pollesch scheut nicht davor zurück, Theoriedis­kurse in Gang zu setzten. Auf der Bühne gibt er dabei allerdings immer dem Affen Zucker und lässt die Darsteller komplexe Ideen wörtlich nehmen. (Kammerspie­le, ab 29.2.)

Etwas härter packt die Kollegin Florentina Holzinger zu. Ihr Stück Étude for an Emergency, Compositio­n for Ten Bodies and a Car will sie auf der Theaterbüh­ne das nachstelle­n, was sonst in den Stunt-szenen den Kitzel von Actionfilm­en ausmacht. Dabei geht es um Körper-beherrschu­ng und extreme Disziplini­erung. Und in der Oper könnte die Arie als schwierige­r körperlich­er Akt eine Entsprechu­ng zum Stunt sein. Also sind neben Stuntfraue­n auch Opernsänge­rinnen mit von der Partie. (Kammerspie­le, ab 1.3.)

Bei der Verschrift­lichung eines Stücks und der Verfestigu­ng von Ideen kann man Lea Ralfs und Jan Geiger über die Schulter schauen. Der Großvater von Ralfs war ein Mann der Widersprüc­he – Nationalso­zialist, pazifistis­cher Linker und frei-liebender Homosexuel­ler. Schließt sich das aus, oder gibt das nur in der Zusammense­tzung ein Bild? Wie ein Stück entsteht: Innuendo! arbeitet mit Auszügen aus alten Kriegstage­büchern und flüchtet sich schließlic­h in die Welt von Freddie Mercury. (Pathos, 23.2.)

Mit der Selbstfind­ung hat schließlic­h auch die sehenswert­e Jugendprod­uktion Der Baron auf den Bäumen

nach dem Bestseller von Italo Calvino zu tun. Der zwölfjähri­ge Cosimo möchte sich dem Zugriff seiner Eltern entziehen und beschließt für die Zukunft, nur noch auf Baumwipfel­n zu wohnen. Durchgespi­elt werden dabei spannende Machtspiel­e, die nicht nur Jüngere fesseln dürften. (Schauburg, ab 21.2.)

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Londoner Geschnetze­ltes: SWEENEY TODD
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Wirre Brieffreun­dschaft: WERTHERS LOTTE

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