Die Grenzen des Erträglichen
Am Residenztheater: „Medea“emanzipiert sich
— Das kann irgendwie nicht gutgehen – zu verspielt, kindhaft schön beginnt dieser Abend. Da erzählen uns zwei Jungs, unter fürsorglich-bestimmter Anleitung („Lauter!“) ihres Erziehers (Nicola Mastroberardino), die etwas komplexe Vorgeschichte. Mit Laserschwert und ferngesteuerter Galeere kommen wir an der Sache mit den Argonauten vorbei, am Goldenen Vlies, an der Liebe ihrer Eltern Medea und Jason. Und erfahren, warum sie alle hier in Korinth gelandet sind.
Einer der Jungs benutzt das Wort „Korinthenkacker“. Das ist lustig, und hat doch tieferen Sinn: denn gleich sehen wir, wie man hier mit ihrer Mama umgeht. Kreon, der König von Korinth (überzeugend als farbloser Machtmensch: Michael Goldberg), und seine Tochter Kreusa (Franziska Hackl) wollen sie loswerden – er, der Auftraggeber für den Klau des Goldenen Vlieses, weil er Schiss hat vor Medeas Zauberkraft, und sie, weil sie in Ruhe das schon etwas spätere Glück mit ihrem Jason genießen will. Kreusa reicht aber nicht, dass sie Medea den Mann weggeschnappt hat, sie raubt ihr auch noch die Würde: wie einen Frosch lässt sie sie hin- und herhüpfen.
Spätestens ab da ist es für Medea zu viel, und Carolin Conrad wird in der Titelrolle nach und nach kämpferischer. „Niemand halte mich für schwach!“wird sie später sagen – das Kleid, das ihr Kreusa als Demütigung überzieht, ist jetzt schon Ausrufezeichen: ein leuchtendes Neon-gelb in einer dunklen Welt, deren Kälte Leuchtstoffröhren, Lasereffekte und wabernde Nebel untermauern. Eine Endzeitatmosphäre, futuristisch und doch nah, wo man in Gummistiefeln – ist das schon der Klimawandel? – durchs
Wasser stapft und gern schwarz und grau trägt (Ausstattung: Thilo Reuter, Teresa Verho). Ganz hinten, erhöht, ein Lichtblick, ein gelber Guckkasten, der sich auch mal näher an uns heranschiebt: das ist das Kinderzimmer. Später wird es Medeas Fluchtort sein.
In Karin Henkels erster Inszenierung am Residenztheater gibt es einen Chor, einen ziemlich großen Chor: 19 junge und ganz junge Mädchen, mal fast Horror in Schuluniformen, mit bleichen Eisenherzperücken, mal in Fridays-forfuture-normalität. „Das endlose Lied von der schwachen Frau hat nun ein Ende“skandieren sie einmal - das steht auch für Henkels Ansatz: ihre „Medea“-version nach Euripides zeigt Erniedrigung, Aufbruch, Emanzipation einer Frau, Umstände, die sie zur Flucht treiben. Die Liebe zwischen Jason und Medea ist perdu, breitbeinig, stämmig verkörpert Aurel Manthei die Distanz des Ex-mannes. Und seine logische Neupositionierung: nicht wirklich emotional, sondern aus Kalkül – er will eine gesicherte Existenz in Korinth, für seine Kinder und für sich.
Eine Frau an den Grenzen des Erträglichen – dass diese Medea geht, ist mehr als nachvollziehbar. Ob’s besser wird? Das neue Leben liefert schon Anzeichen des Scheiterns: der neue Mann ist ein affiger Macho (auch Nicola Mastroberardino), und zu demonstrativ, huldvoll, wie die Windsor-royals, winkt die überglückliche Familie – nun mit zwei Töchtern – ins Volk. Warum aber muss dieser Weg über den Mord an ihren beiden Söhnen gehen? Wir erleben das mit: sie ersticht die Jungs, die gerade mit Kopfhörern vor der Glotze hängen. Nein, diese Medea macht es sich nicht leicht, sie braucht drei Anläufe, um sich ihres Tötungsvorhabens zu vergewissern. Aber diesen unglaublichen Entschluss aus der Entwicklung heraus glaubhaft zu motivieren, das gelingt der Regie nicht. Trotzdem: großer Jubel nach zweieinhalb Stunden (mit Pause).