Was vom Frühling übrig blieb
Burn-out der Hoffnungen: Festival Locarno widmet sich den Filmkulturen des Maghreb
LOCARNO - Beim Filmfestival von Locarno gibt es die Sektion Open Doors. Sie versteht sich als Türöffner für eine bestimmte Kinoregion. Jedes Jahr wird eine andere in den Fokus gerückt. Es sind Regionen die vernachlässigt wurden oder anderweitig besondere Beachtung verdienen. Gleich beides gilt für den Maghreb. Geografisch zwar ein Teil Afrikas, kulturell aber zum arabisch-islamischen Kulturraum gehörend, verbindet ihn historisch als ehemaligem Teil des Römischen Imperiums doch auch vieles mit Europa.
Die Maghrebländer Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko sitzen kulturell schnell zwischen allen Stühlen. Und auch politisch lag der Maghreb lange im Schatten. Doch spätestens mit der Arabellion und den Flüchtlingen übers Mittelmeer wird er aus europäischer Sicht wieder interessant. Eine Auswahl von 22 Filmen von dort präsentiert das diesjährige Programm des Festivals in Locarno. Es sind hochspannende, stilistisch aufregend moderne und mitunter experimentelle Filme.
Der Witz ist subversiv
Ein Zeichentrickfilm. Er zeigt mit subversivem Witz eine Frau, die ein Badehaus besucht. Doch es ist ein Badehaus in Tunesien, wo Frauen auch heute noch Menschen zweiter Klasse sind. „L’Mrayet“heißt dieses Animationsstück. Es stammt aus dem Jahr 2011, als in Tunesien die „Jasminrevolution“gegen das Ben- Ali-Regime noch bevorstand. Unter der Hand entwickelt sich aus den ersten Szenen im Badehaus die Geschichte einer Geburt und das Porträt eines Landes, das sich auf dem Weg in den Totalitarismus befindet und in dem Meinungsfreiheit nur auf dem Papier steht.
Die Regisseurin dieses Films heißt Nadia Rais. Rais gewann am Dienstag in Locarno einen der Preise in der Sektion Open Doors. Diese Preise sind gedacht für Filme, die es bisher nur auf dem Papier gibt. Wer sie gewinnt, das hängt vom bisherigen Werk der Filmemacher ab und von der Präsentation des neuen Projekts bei einer mehrtägigen Vorstellungsrunde. Nadia Rais’ neues Projekt heißt „Aller simple“. Und auch darin will sie sich mit der Meinungsfreiheit und totalitären Tendenzen in ihrer Heimat auseinandersetzen.
Ihre algerische Kollegin Narimane Mari bekam die Auszeichnung für „Loubia Hamra“. Darin porträtiert sie im Stil des italienischen Neorealismus eine Gruppe Halbwüchsiger in Algier.
Bekannte Konfliktstrukturen
In manchen Geschichten geht es um bekannte Konfliktstrukturen: Zwischen Mutter und Sohn oder Vater und Sohn oder um die tabubehaftete Liebe zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau, um Arbeiterinnen in einer Fabrik in Tanger. Schon die Titel sind vielsagend: Die libyschen heißen: „Mission Impossible“, „Land der Männer“, „Drifting“. Die marokkanischen: „Jenseits der Stadt“, „Rückkehr zum Gleichgewicht“. Und „Tarzan, Don Quixote und wir“ist nicht allein ein Film über Algiers Cervantes-Viertel, sondern über den Zustand der ganzen Gesellschaft.
Der algerische Dokumentarfilm „La Chine est encore loin“(China ist noch weit) von Malek Bensmaïl reist zurück an die Wiege der algerischen Revolution in Chaoui. Er erzählt die Geschichte ihrer ersten zivilen Opfer – eines französischen Lehrerpaares, und eines Dorfpolitikers. Sie wurden dort am 1. November 1954 ermordet. Fast 60 Jahre später kam es zur Jasminrevolution, von der „Printemps Tunesien“erzählt – zweimal geht es darum, was von der Revolte übrig blieb.
Starke Eindrücke von der Region
Die Filme des Maghreb sind nicht immer offen politisch. Aber sie sind offen in ihrem Problembewusstsein. Stark sind die Eindrücke von den Gemeinsamkeiten einer Region, die sich in den letzten Jahren selbst und oft gegen die Gleichgültigkeit des reichen Westens aus den Fängen einer Diktatur befreit hat – um schnell in andere autoritäre Zwänge hineinzustolpern. Es ist auch eine Region, in der Kultur einen anderen, höheren Stellenwert hat als in Europa, deren kulturelle Eliten auf den Arabischen Frühling große Hoffnungen gesetzt haben und durch die Bedrohung durch den IS noch mehr zu verlieren haben als andere Gesellschaftsschichten.
Alles eine Frage der Macht
Arabellion und Islamofaschismus hinterlassen tiefe Spuren in den in Locarno vorgestellten Filmen und Projekten. Sie drehen sich um Terroristen, aber auch um Beziehungskrisen, sie zeigen Geschlechterverhältnisse und ökonomische Unterdrückung. Und sie zeigen immer Machtverhältnisse.
Kaum geht es dagegen um Migration – das liegt nicht nur daran, dass die vorgestellten Filmemacher in ihren Ländern bleiben, die dortigen Verhältnisse ändern und bessern wollen und nicht fliehen. Es hat auch damit zu tun, dass Europa als Kontinent der Hoffnung für den Maghreb einstweilen ausgedient hat. Eine große Ernüchterung, ein Burn-out der Hoffnungen hat im Norden Afrikas eingesetzt. Das ist, für uns im Norden zumal, keine gute Nachricht.