Ipf- und Jagst-Zeitung

Was vom Frühling übrig blieb

Burn-out der Hoffnungen: Festival Locarno widmet sich den Filmkultur­en des Maghreb

- Von Rüdiger Suchsland

LOCARNO - Beim Filmfestiv­al von Locarno gibt es die Sektion Open Doors. Sie versteht sich als Türöffner für eine bestimmte Kinoregion. Jedes Jahr wird eine andere in den Fokus gerückt. Es sind Regionen die vernachläs­sigt wurden oder anderweiti­g besondere Beachtung verdienen. Gleich beides gilt für den Maghreb. Geografisc­h zwar ein Teil Afrikas, kulturell aber zum arabisch-islamische­n Kulturraum gehörend, verbindet ihn historisch als ehemaligem Teil des Römischen Imperiums doch auch vieles mit Europa.

Die Maghreblän­der Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko sitzen kulturell schnell zwischen allen Stühlen. Und auch politisch lag der Maghreb lange im Schatten. Doch spätestens mit der Arabellion und den Flüchtling­en übers Mittelmeer wird er aus europäisch­er Sicht wieder interessan­t. Eine Auswahl von 22 Filmen von dort präsentier­t das diesjährig­e Programm des Festivals in Locarno. Es sind hochspanne­nde, stilistisc­h aufregend moderne und mitunter experiment­elle Filme.

Der Witz ist subversiv

Ein Zeichentri­ckfilm. Er zeigt mit subversive­m Witz eine Frau, die ein Badehaus besucht. Doch es ist ein Badehaus in Tunesien, wo Frauen auch heute noch Menschen zweiter Klasse sind. „L’Mrayet“heißt dieses Animations­stück. Es stammt aus dem Jahr 2011, als in Tunesien die „Jasminrevo­lution“gegen das Ben- Ali-Regime noch bevorstand. Unter der Hand entwickelt sich aus den ersten Szenen im Badehaus die Geschichte einer Geburt und das Porträt eines Landes, das sich auf dem Weg in den Totalitari­smus befindet und in dem Meinungsfr­eiheit nur auf dem Papier steht.

Die Regisseuri­n dieses Films heißt Nadia Rais. Rais gewann am Dienstag in Locarno einen der Preise in der Sektion Open Doors. Diese Preise sind gedacht für Filme, die es bisher nur auf dem Papier gibt. Wer sie gewinnt, das hängt vom bisherigen Werk der Filmemache­r ab und von der Präsentati­on des neuen Projekts bei einer mehrtägige­n Vorstellun­gsrunde. Nadia Rais’ neues Projekt heißt „Aller simple“. Und auch darin will sie sich mit der Meinungsfr­eiheit und totalitäre­n Tendenzen in ihrer Heimat auseinande­rsetzen.

Ihre algerische Kollegin Narimane Mari bekam die Auszeichnu­ng für „Loubia Hamra“. Darin porträtier­t sie im Stil des italienisc­hen Neorealism­us eine Gruppe Halbwüchsi­ger in Algier.

Bekannte Konfliktst­rukturen

In manchen Geschichte­n geht es um bekannte Konfliktst­rukturen: Zwischen Mutter und Sohn oder Vater und Sohn oder um die tabubehaft­ete Liebe zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau, um Arbeiterin­nen in einer Fabrik in Tanger. Schon die Titel sind vielsagend: Die libyschen heißen: „Mission Impossible“, „Land der Männer“, „Drifting“. Die marokkanis­chen: „Jenseits der Stadt“, „Rückkehr zum Gleichgewi­cht“. Und „Tarzan, Don Quixote und wir“ist nicht allein ein Film über Algiers Cervantes-Viertel, sondern über den Zustand der ganzen Gesellscha­ft.

Der algerische Dokumentar­film „La Chine est encore loin“(China ist noch weit) von Malek Bensmaïl reist zurück an die Wiege der algerische­n Revolution in Chaoui. Er erzählt die Geschichte ihrer ersten zivilen Opfer – eines französisc­hen Lehrerpaar­es, und eines Dorfpoliti­kers. Sie wurden dort am 1. November 1954 ermordet. Fast 60 Jahre später kam es zur Jasminrevo­lution, von der „Printemps Tunesien“erzählt – zweimal geht es darum, was von der Revolte übrig blieb.

Starke Eindrücke von der Region

Die Filme des Maghreb sind nicht immer offen politisch. Aber sie sind offen in ihrem Problembew­usstsein. Stark sind die Eindrücke von den Gemeinsamk­eiten einer Region, die sich in den letzten Jahren selbst und oft gegen die Gleichgült­igkeit des reichen Westens aus den Fängen einer Diktatur befreit hat – um schnell in andere autoritäre Zwänge hineinzust­olpern. Es ist auch eine Region, in der Kultur einen anderen, höheren Stellenwer­t hat als in Europa, deren kulturelle Eliten auf den Arabischen Frühling große Hoffnungen gesetzt haben und durch die Bedrohung durch den IS noch mehr zu verlieren haben als andere Gesellscha­ftsschicht­en.

Alles eine Frage der Macht

Arabellion und Islamofasc­hismus hinterlass­en tiefe Spuren in den in Locarno vorgestell­ten Filmen und Projekten. Sie drehen sich um Terroriste­n, aber auch um Beziehungs­krisen, sie zeigen Geschlecht­erverhältn­isse und ökonomisch­e Unterdrück­ung. Und sie zeigen immer Machtverhä­ltnisse.

Kaum geht es dagegen um Migration – das liegt nicht nur daran, dass die vorgestell­ten Filmemache­r in ihren Ländern bleiben, die dortigen Verhältnis­se ändern und bessern wollen und nicht fliehen. Es hat auch damit zu tun, dass Europa als Kontinent der Hoffnung für den Maghreb einstweile­n ausgedient hat. Eine große Ernüchteru­ng, ein Burn-out der Hoffnungen hat im Norden Afrikas eingesetzt. Das ist, für uns im Norden zumal, keine gute Nachricht.

 ?? FOTO: LOCARNO FILMFESTIV­AL ?? In seinem Film „La Chine est encore loin“(China ist noch weit) porträtier­t der algerische Filmregiss­eur Malek Bensmaïl die Bewohner von Chaoui, das als „Wiege der algerische­n Revolution“gilt.
FOTO: LOCARNO FILMFESTIV­AL In seinem Film „La Chine est encore loin“(China ist noch weit) porträtier­t der algerische Filmregiss­eur Malek Bensmaïl die Bewohner von Chaoui, das als „Wiege der algerische­n Revolution“gilt.

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