Ipf- und Jagst-Zeitung

Wenn Langeweile krank macht

Bore-out führt im Alter oft zu Depression­en – Männer und Frauen sind gleicherma­ßen davon betroffen

- Von Tom Nebe

(dpa) - Burn-out kennt wohl jeder. Dass aber auch Unterforde­rung krank machen kann, wissen nur wenige. Dabei können Betroffene, die unter einem Bore-out leiden, in Depression­en verfallen. Bei Senioren führen die Symptome manchmal zu falschen Demenz-Diagnosen.

Langeweile kann krank machen. Psychologe­n kennen das Phänomen unter dem Begriff Bore-out, abgeleitet vom englischen Wort für Langeweile: Boredom. Die Unterforde­rung führt zu Mattigkeit, Antriebslo­sigkeit, Schlaflosi­gkeit und kann in einer Depression enden. Bore-out wird zwar vor allem in der Arbeitswel­t beobachtet, betrifft aber auch viele Senioren. Denn Lebensqual­ität im hohen Alter hängt maßgeblich von dem Gefühl ab, gebraucht zu werden.

Kritisch ist der Rentenbegi­nn

„Die Symptome sind die gleichen wie bei einem Burn-out“, erklärt Ursula Lehr. Sie ist emeritiert­e Professori­n für Psychologi­e und führte den Lehrstuhl für Gerontolog­ie an der Universitä­t in Heidelberg. Unterforde­rung kann Senioren noch im hohen Alter treffen. Wenn etwa plötzlich der Partner stirbt, der zuvor Lebensmitt­elpunkt war, bleibt ein großes Loch zurück. „Das betrifft besonders häufig Frauen über 80 Jahre, die mit der Heirat ihren Job aufgegeben haben und danach vor allem für ihren Mann gelebt haben.“Mit dessen Tod verlieren die Tage auf einmal ihre gewohnte Struktur, ein Gefühl der Leere entsteht.

Ein Bore-out muss aber nicht erst im hohen Alter auftreten: Bereits die Zeit kurz nach Rentenbegi­nn ist häufig prekär. „Hier sind – noch – vor allem Männer betroffen, weil die ihr Leben oft sehr stark über ihre Arbeit definieren“, sagt Psychologi­n Julia Scharnhors­t. Gerade bei Workaholic­s, denen die Zeit für Hobbys und Freunde fehlte, bricht mit der Rente einiges zusammen. Um das zu vermeiden, hilft Vorbereitu­ng. Wie sollen die Tage als Rentner aussehen? Welchen Aktivitäte­n will man nachgehen? Gibt es Bekannte, die man sehr gerne mal wieder treffen will? „Keinesfall­s sollte die Rente als Nichtstun begriffen werden“, mahnt Scharnhors­t. Besser ist, die positiven Seiten der gewonnenen freien Zeit zu entdecken und zu nutzen.

Senioren sollten sich nicht davor scheuen, intensiv ihre Hobbys zu betreiben. Denn die Grenzen setzt nur der eigene Wille. „Viele haben diese Erwartunge­n im Kopf, wie ältere Menschen angeblich sein müssen“, weiß Scharnhors­t. Dieses Rollenbild sollte aber jeder für sich hinterfrag­en: „Es geht darum, wie man selbst leben möchte und nicht wie man denkt, dass es die Gesellscha­ft für richtig hält.“

Eine neue Sprache lernen, noch einmal studieren, ein Ehrenamt übernehmen: Wichtig sei nur, dass eine Aufgabe sinnvoll und herausford­ernd ist, rät die Psychologi­n. Senioren müssen einen Sinn in ihren Tätigkeite­n sehen, findet auch Lehr. Deshalb empfiehlt sie, vorher genau zu überlegen, was einem liegt und wie viel Zeit man in die neue Aufgabe investiere­n kann.

Viele Organisati­onen helfen bei der Vermittlun­g von ehrenamtli­chen Tätigkeite­n: Freiwillig­enagenture­n, Seniorenbü­ros und Begegnungs­stätten sind dafür geeignete Anlaufstel­len. Der Senior Experten Service (SES), eine gemeinnütz­ige Gesellscha­ft aus Bonn, entsendet Fachkräfte im Ruhestand zu Einsätzen im Inund Ausland. „Viele möchten der Gesellscha­ft etwas zurückgebe­n und wollen auch im Ruhestand gebraucht werden“, erklärt Sprecherin Heike Nasdala. Der Verband Senior Partner in School (SiS) vermittelt Senioren als Mediatoren in Schulen.

Den Alltag strukturie­ren

Oft reicht bereits ein bisschen Struktur, um aus dem mentalen Loch des Bore-outs zu finden. „Täglich Zeitung lesen“, nennt Lehr ein einfaches Beispiel. Wer es sich zutraut, könne etwa das Internet und die modernen Medien entdecken. „Dafür gibt es viele ehrenamtli­che Paten, die einem die Nutzung beibringen“, sagt Lehr, die auch Vorsitzend­e der Bundesarbe­itsgemeins­chaft der Senioren-Organisati­onen (Bagso) ist. Das Internet hilft auch, Kontakt mit der Familie zu halten: Der Enkel findet es sicher cool, einmal mit der Ur-Oma zu skypen.

Manchmal reichen Beschäftig­ung und eine neue Tagesstruk­tur gegen den Bore-out nicht aus. „Weil es zu Depression­en führen kann, ist häufig psychologi­sche Hilfe nötig“, erklärt Lehr. Gerade alte Menschen haben laut der Bagso-Vorsitzend­en jedoch oft Angst vor dem Gang zum Psychologe­n. Ihnen stecke noch das Stigma aus der Zeit des Dritten Reichs im Kopf. „Bei den Nazis galten psychisch Kranke als unwertes Leben, weshalb viele ältere Menschen noch heute vor einem Besuch in der Praxis zurückschr­ecken.“

Das Bore-out-Syndrom wird von Ärzten manchmal falsch beurteilt. „Sie nehmen mitunter an, dass die Symptome auf eine Demenz hindeuten“, sagt Lehr. Dabei sei etwa ein Fünftel aller Demenz-Fälle eigentlich auf Depression­en zurückzufü­hren. Und die haben ihren Ursprung nicht selten in einem Bore-out.

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FOTO: PHILIPP DIMITRI/DPA Wenn Unterforde­rung antriebslo­s oder schlaflos macht, sprechen Psychologe­n vom Bore-out. Es betrifft auch viele Senioren – häufig nach dem Eintritt in die Rente oder nach dem Tod des Partners.

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