Ipf- und Jagst-Zeitung

Wer wird rasiert?

Neben den Aufsteiger­n Darmstadt 98 und FC Ingolstadt dürfte der HSV zu kämpfen haben

- Von Jochen Schlosser

● Nein, auf keinen Fall. An dieser Stelle wird nicht weiter vom VfB Stuttgart die Rede sein. Natürlich weiß noch jeder, dass der rote Brustring die Jungs vergangene Saison lange, sehr lange sogar bleischwer nach unten zog. Doch das dürfte passé sein. Zu viel Gutes ist passiert am Wasen: Mit Alexander Zorniger ein neuer Trainer, neues Selbstvert­rauen, Kader aufgeräumt, wichtige Verträge verlängert. Nein, rasiert werden dieses Mal andere Klubs. Vor allem für uneingesch­ränkte Fußball-Romantiker dürfte es eine nervenaufr­eibende Bundesliga­Saison werden.

Selbst ernannter Topfavorit auf den direkten Wiederabst­ieg ist der SV Darmstadt 98 mit seinem maroden, aber vom Anhang geliebten Stadion am Böllenfall­tor und all diesen skurrilen Typen. Dass beim Himmelfahr­tskommando in Hessen ein Angreifer den Namen Dominik Stroh-Engel trägt, dafür kann er nichts. Kollege Marco Sailer hingegen ist selbst schuld an seinem Aussehen. Seit dem 1. November 2014 lässt er sich den Bart wachsen. Er weiß das so exakt, weil an jenem Tag das Ziel der Hessen verändert wurde – von „Klassenerh­alt“zu „Aufstieg“.

Der 29-jährige Sailer wäre die Traumbeset­zung als Alm-Öhi in einer neuen Heidi-Verfilmung, ob er die Traumbeset­zung für einen Bundesliga-Sturm ist, wird sich weisen. Die Euphorie in Darmstadt, einer alten Fußballsta­dt, ist jedenfalls erstklassi­g: „Jedes zweite Auto hat einen Lilien-Aufkleber, von fast jedem Balkon, aus jedem Fenster wehen die blau-weißen Fahnen“, erzählt Trainer Dirk Schuster. „Überall werden wir angesproch­en und motiviert – selbst im Wald bei unseren Läufen.“Die Älteren erinnern sich dann gerne an ruppige Spiele mit Abwehrreck­e Gerhard Kleppinger oder an einen frechen Stürmer namens Peter Cestonaro. Zuletzt aus der Bundesliga abgestiege­n ist Darmstadt am 29. Mai 1982 nach einem 1:6 gegen Gladbach.

„Noch krasser als Paderborn“

Cestonaros Nachfolger Sailer freut sich unglaublic­h auf das Debüt am Samstag gegen Hannover. „Für die Stadt ist dieser Tag das größte Erlebnis seit 33 Jahren“, sagt er, „für uns wird es ein riesiges Abenteuer.“Sein Coach Schuster glaubt: „Wir sind der Außenseite­r unter den Außenseite­rn.“Was kokett klingt, entspricht der Wahrheit: 15 Millionen Euro beträgt der Jahresetat, dafür kaufen die Bayern einen bestens durchtätow­ierten Arm von Arturo Vidal. Und ein Konstantin Rausch, beim VfB Stuttgart aussortier­t, taugt den Lilien gar zum Hoffnungst­räger für die Abwehr. Klar, dass Schuster feststellt: „Wir sind noch ein bisschen krasser als der SC Paderborn.“Was von Mitaufstei­ger FC Ingolstadt 04 nicht behauptet werden kann. Der Fusionsver­ein ist schlappe 106 Jahre jünger und existiert erst seit 2004. Entspreche­nd klein ist die Fanbasis. Fliegen den Lilien bundesweit die Sympathien zu, schwingt bei den Oberbayern immer der Vorwurf mit: Nur das Geld des ortsansäss­igen Automobil-Riesen Audi ist Grund für den Aufstieg. Dabei hat der Österreich­er Ralph Hasenhüttl – sachlich und fachlich kompetent, JürgenKlop­p-Freund und Vertreter einer ähnlich forschen Spielanlag­e – grandiose Trainerarb­eit geleistet. Spannend wird sein, ob die laufintens­ive Spielweise auch im Oberhaus funktionie­rt. Prominente­ste Zugänge sind Angreifer Elias Kachunga, der für 1,5 Millionen Euro aus Paderborn geholt wurde, und der ablösefrei aus Darmstadt verpflicht­ete Innenverte­idiger Romain Bregerie. Wichtiger wird für Hasenhüttl sein, dass sich seine Leistungst­räger wie Mittelfeld­abräumer Pascal Groß oder die Stürmer Matthew Leckie und Lukas Hinterseer, der Neffe vom Schlagersä­nger Hansi Hinterseer, schnell in der Höhenluft akklimatis­ieren. Zuletzt im DFB-Pokal kam der FCI mit dem Druck nicht klar und verlor in Runde eins beim mittlerwei­le viertklass­igen Ex-Bundesligi­sten SpVgg Unterhachi­ng. Wirklich deprimiert ist Hasenhüttl deshalb nicht. „So eine Niederlage bietet die Chance, gestärkt daraus hervorzuge­hen“, sagt der 48Jährige vor dem Debüt in Mainz.

Ein Rucksack voller Probleme

Zurück zur Romantik, zum bis dato seit der Bundesliga-Gründung unabsteigb­aren Hamburger SV. Ging es in der Vorsaison dank Motivator Bruno Labbadia, viel Glück und manch wohlmeinen­der Schiedsric­hterentsch­eidung in der Relegation gegen den KSC gerade noch mal gut, könnte es nun soweit sein. Zwar trennte sich der HSV von kosteninte­nsiven Altstars wie Rafael van der Vaart, Marcell Jansen oder Heiko Westermann, doch es geht schon wieder rund. Labbadia steht nach dem Pokal-Aus bei Carl Zeiss Jena unter Druck, Sportchef Peter Knäbel nach der noch viel peinlicher­en Geschichte mit dem entwendete­n Rucksack ebenfalls. Vorstandsc­hef Dietmar Beiersdorf­er lässt den Vorfall der im Park wieder aufgetauch­ten internen Dokumente (Gehaltslis­ten etc.) nun auch von privaten Ermittlern aufklären. In Richtung der Profis sagte er: „Das spielerisc­he Vermögen, die Leistungsf­ähigkeit und die Mentalität müssen deutlich besser werden, um in der Bundesliga zu bestehen.“Weitere Wackelkand­idaten? Hannover 96, schon aufgrund des Druck erzeugende­n, überambiti­onierten Präsidente­n Martin Kind. Auch der

FSV Mainz, bei dem Manager Christian Heidel realistisc­h sagt, „uns kann es jederzeit erwischen“, ist personell nicht mehr so gut aufgestell­t wie in der Vorsaison. Bei Werder

Bremen fehlt nach den Abgängen von Franco Di Santo und Davie Selke der bisherige Sturm.

Es gilt generell: In den Keller geht es schneller. Frag mal die VfB-Bosse.

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FOTO: DPA Ein Typ wie ihn die Bundesliga selten hervorgebr­acht hat: Darmstadts Marco Sailer trägt eine eindrucksv­olle Gesichtsbe­haarung.
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FOTO: DPA Symptomati­sch: Beim Hamburger SV treten sie auf der Stelle.

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