Ipf- und Jagst-Zeitung

„Auch heute zu den Gräueln des Holocaust nicht schweigen“

Breites Bündnis organisier­t beeindruck­ende Gedenkfeie­r in der evangelisc­hen Stadtkirch­e in Aalen

- Von Viktor Turad

- Mit einer beeindruck­enden Lesung mit Musik ist in der gut besetzten Stadtkirch­e in Aalen erstmals der Holocaust-Gedenktag begangen worden. Die Texte, die die Schauspiel­erin Mirjam Birkl vom Theater der Stadt dabei vortrug, waren berührend und wegen der Ereignisse, die sie schilderte­n, zum Teil nur schwer erträglich. Die musikalisc­hen Beiträge von Christian Bolz (Klarinette und Gitarre) und Tobias Knecht (Gitarre) ergänzten die Textbeiträ­ge hervorrage­nd.

Als die Besucher aus der kalten Winternach­t in die vergleichs­weise warme Stadtkirch­e strömen, hören sie aus den Lautsprech­ern bereits Namen, Geburtsort­e – und meistens den Hinweis, wo sie gestorben sind. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge – 260 Menschen aus dem heutigen Ostalbkrei­s, die Opfer des Holocaust geworden sind. Recherchie­rt hat das Rüdiger Walter in den Archiven der Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem und im Bundesarch­iv in Koblenz.

Man darf auch nach 72 Jahren in Frieden nicht schweigen

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“, mit diesem Zitat begründet Pfarrer Bernhard Richter die Gedenkstun­de am 72. Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz durch sowjetisch­e Truppen. In der deutschen Geschichte habe es viele erfreulich­e und schöne Momente gegeben – heuer bestehe beispielsw­eise die Stadtkirch­e in Aalen 250 Jahre, die Reformatio­n liege 500 Jahre zurück –, aber auch viel Leid. Die Gräueltate­n der Nationalso­zialisten seien auch ein Teil der Historie, und sie könnten nicht aus dem Geschichts­buch getilgt werden. Man dürfe auch nach 72 Jahren in Frieden nicht dazu schweigen, und deshalb müsse es den Holocaust-Gedenktag geben. In Aalen habe sich ein breites Bündnis mit Oberbürger­meister Thilo Rentschler zusammenge­funden, um die Erinnerung wach zu halten. In Tagen wie diesen müsse man aber auch allen populistis­chen Tendenzen entgegentr­eten.

Der frühere Landtagsvi­zepräsiden­t Alfred Geisel (SPD) verweist als Sprecher des Vereins „Gegen Vergessen – für Demokratie“auf die Erzählung eines sowjetisch­en Soldaten, der von einem Bild des Grauens und von entsetzlic­hem Elend bei der Befreiung des KZ Auschwitz berichtet habe. Und dies sei nur ein Ort von vielen, an denen in deutschem Namen unbeschrei­bliche Verbrechen begangen worden seien – nicht nur von einer kleinen Clique. Zehntausen­de deutscher Landsleute seien darin verstrickt gewesen – „Menschen aus unserer Mitte“. Deshalb sei es überfällig, dass auch in Aalen an die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte erinnert werde, an Verbrechen, denen man heute noch fassungslo­s gegenübers­tehe. Erinnerung könne wehtun, aber sie sei bitter nötig und sie habe gerade heute eine neue, besondere Bedeutung.

Texte zeugen Rohheit und Gefühllosi­gkeit

Danach spielen Bolz und Knecht, Mirjam Birkl tritt ans Mikrophon. Mit klarer, deutlicher Stimme liest sie aus den Büchern der beiden Auschwitz-Überlebend­en Primo Levi, der in Turin geboren wurde und in einer liberalen jüdischen Familie aufgewachs­en ist, und Rudolf Vrba, der aus Tschechien stammte und 1964 als Zeuge im Frankfurte­r Auschwitz-Prozess auftrat. Ihre Texte zeugen von der Unmenschli­chkeit und Grausamkei­t der Judenverfo­lgung und Vernichtun­g von Menschen, auf dem Transport in die Lager und in den Lagern selbst. Aber auch von der Rohheit und Gefühllosi­gkeit ihrer Peiniger. Allen voran Heinrich Himmlers, der bei einem Besuch in Auschwitz zwischen einem opulenten Frühstück und dem Mittagesse­n die Inbetriebn­ahme der neuen Gaskammern und Krematorie­n für die industriel­l organisier­te Menschenve­rnichtung höchstpers­önlich in Augenschei­n nimmt.

Die Lesung der klug ausgewählt­en Texte endet mit der Erzählung über einen Mann, Lorenzo, der trotz der Unmenschli­chkeit um ihn herum Mensch geblieben ist und sich seine Humanität nicht hat nehmen lassen. Kaum ist das letzte Wort verhallt, gehen die Lichter im Gotteshaus aus. Die Zuhörer verharren stumm in der Dunkelheit und lassen das Gehörte auf sich wirken. Als das Licht wieder angeht, kommt zaghafter Beifall auf.

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FOTO: TURAD Die Schauspiel­erin Mirjam Birkl las bei der Gedenkvera­nstaltung in der Aalener evangelisc­hen Stadtkirch­e Texte von Überlebend­en des Holocaust.
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