Unterwegs mit Todesangst
Ein Vorgang, zwei Perspektiven und ein Richter, der zunächst nicht weiß, was er glauben soll
Donnerstag, der 8. September 2016, 12 Uhr mittags, irgendwo auf der A 96 bei Leutkirch in Richtung Lindau: Der gelbe Sportwagen fährt mit etwa 150 km/h dahin. Der Fahrer, ein gemütlich wirkender Mann Anfang 50, unterhält sich mit seiner Freundin, die vom Beifahrersitz aus die liebliche Allgäuer Landschaft bewundert. Da setzt der Sportflitzer zum Überholen eines dunklen Volvo-Kombis an. Doch anstatt auf der freien Strecke einfach vorbeirauschen zu können, zieht der deutlich langsamere Volvo plötzlich auf die linke Spur und blockiert damit den Sportwagen. Da ist es schlagartig vorbei mit der Gemütlichkeit und das Paar wird von Adrenalin geflutet.
Über eine Strecke von fast 20 Kilometern hinweg macht es der Volvo durch waghalsige Lenkmanöver unmöglich, andere Fahrzeuge überholen zu lassen. Nach einer Reihe von brenzligen Situationen, gibt der Sportwagenfahrer zunächst mit zitternden Händen auf. Später wird er im Gerichtssaal zu Protokoll geben: „Meine Freundin hat fast gekotzt.“Begriffe wie „Todesangst“und „Jetzt ist es aus!“werden fallen.
Gemächlich über die Autobahn
Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit, aber aus der Perspektive des Volvo: Die 60-jährige Architektin ist auf dem Weg in die Schweiz zu einem Geschäftstermin. Wie es ihre Art ist, gleitet sie mit gemächlichen 110 km/h über die Autobahn. Als sie einen langsameren Pkw überholt, ist da plötzlich noch ein Auto links neben ihr: Ein gelber Sportwagen, besetzt mit einem Mann und einer Frau, der sich zwischen den Volvo und die Leitplanke schiebt. Die Architektin reißt das Steuer herum und rollt mit klopfendem Herzen wieder auf der rechten Spur weiter.
Es ist schließlich das Amtsgericht Wangen, das zum finalen Schauplatz dieser Geschichte wird. Ein und dieselbe Geschichte, die doch auf zwei grundverschiedenen Wahrheiten beruht. Der Richter jedenfalls wirkt ratlos, als er die Version der angeklagten Volvo-Fahrerin hört und diese überhaupt nicht mit der Aussage des Paares aus dem Sportwagen übereinstimmt. Wer lügt da? Und warum? Beide Parteien kennen sich nicht. Das Paar stammt aus Geretsried, die Angeklagte aus München. Warum sollte der Sportwagenfahrer die Volvo-Fahrerin angezeigt haben, wenn er keine Horrorfahrt erlebt hat, wie es das Paar mit Schrecken schildert?
Der Vorsitzende blickt drein wie ein Mensch gewordenes Fragezeichen. Das mag gewiss auch daran liegen, dass die Architektin so ganz und gar nicht in das Bild der Verkehrsquerulantin passt: Schlanke Statur, dunkler Faltenrock, roter Pullover, schwarzes Jackett. Die Brille hat sie über ihr schulterlanges blondes Haar geschoben. Als der Staatsanwalt ihr die Anklage wegen Nötigung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr vorliest, blickt sie immer wieder verständnislos zu ihrer Verteidigerin. Gerade so, als erzähle der Jurist die Geschichte einer fremden Person, mit der sie nicht das Geringste zu tun hat. „In meinem Gedankengebäude existiert so etwas wie andere auszubremsen gar nicht“, sagt sie mit weit aufgerissenen Augen. Von den durch das Paar geschilderten Nahtoderfahrungen ist die Angeklagte entsetzt. Sie entschuldigt sich, unterstreicht aber auch: „Ich habe das nicht so wahrgenommen. Ich habe das nicht so erlebt.“Sie gibt zu, zu besagter Zeit auf der Strecke gewesen zu sein, auch an den gelben Sportwagen erinnert sie sich lebhaft. „Aber Nötigung?“Niemals. Die Verteidigerin der Angeklagten meldet Zweifel an der Aussage des Paares an, das angibt, auf einer Strecke von 15 bis 20 Kilometern habe kein anderes Fahrzeug den Volvo überholt. „Zur Mittagszeit auf dieser viel befahrenen Autobahn? Das kann ich beim besten Willen nicht glauben.“
Der Staatsanwalt glaubt jedenfalls an die Schuld der Angeklagten und fordert fast 6000 Euro Strafe plus 13 Monate Fahrverbot. Die Verteidigerin beantragt Freispruch. Entsetzen bei der Angeklagten.
Als der Richter sich zur Urteilsfindung zurückzieht, beginnen die Volvo-Fahrerin und das Paar zu reden. Komisch sei das, wie unterschiedlich die Wahrnehmung bisweilen funktioniere. Und dass man niemandem etwas Böses habe antun wollen. Bevor der Richter an sein Pult zurückkehrt, stellen die Parteien fest, wie sympathisch sie sich sind. Der Sportwagenfahrer fragt den Staatsanwalt: „Darf ich noch mal was sagen? Die Geschichte, die Anzeige, das tut mir leid.“In Anbetracht der möglichen Strafe vergräbt die Volvo-Fahrerin das Gesicht plötzlich in den Händen und schluchzt, sodass ihre Verteidigerin den Arm um sie legt.
Doch für weitere Anmerkungen, Kommentare oder gar die Rücknahme der Anzeige ist es jetzt zu spät: Der Richter betritt den Saal, der Sportwagenfahrer beißt sich auf die Lippen, die Angeklagte wischt ihre Tränen ab – und atmet auf, als sie lediglich zu einer Geldbuße in Höhe von 120 Euro wegen fahrlässigen Überholens verurteilt wird. „Wir haben es hier mit dem Phänomen der subjektiven Wahrnehmung zu tun. Der klassische Autobahn-Rüpel scheinen Sie mir nicht zu sein. Und im Zweifel muss ich von einem Versehen ausgehen.“Die Erleichterung ist mit Händen zu greifen. Die Angeklagte und das Paar, das sie angezeigt hat, müssen sich sichtlich zusammenreißen, damit sie einander nicht in die Arme fallen.