Ipf- und Jagst-Zeitung

Unterwegs mit Todesangst

Ein Vorgang, zwei Perspektiv­en und ein Richter, der zunächst nicht weiß, was er glauben soll

- Von Erich Nyffenegge­r

Donnerstag, der 8. September 2016, 12 Uhr mittags, irgendwo auf der A 96 bei Leutkirch in Richtung Lindau: Der gelbe Sportwagen fährt mit etwa 150 km/h dahin. Der Fahrer, ein gemütlich wirkender Mann Anfang 50, unterhält sich mit seiner Freundin, die vom Beifahrers­itz aus die liebliche Allgäuer Landschaft bewundert. Da setzt der Sportflitz­er zum Überholen eines dunklen Volvo-Kombis an. Doch anstatt auf der freien Strecke einfach vorbeiraus­chen zu können, zieht der deutlich langsamere Volvo plötzlich auf die linke Spur und blockiert damit den Sportwagen. Da ist es schlagarti­g vorbei mit der Gemütlichk­eit und das Paar wird von Adrenalin geflutet.

Über eine Strecke von fast 20 Kilometern hinweg macht es der Volvo durch waghalsige Lenkmanöve­r unmöglich, andere Fahrzeuge überholen zu lassen. Nach einer Reihe von brenzligen Situatione­n, gibt der Sportwagen­fahrer zunächst mit zitternden Händen auf. Später wird er im Gerichtssa­al zu Protokoll geben: „Meine Freundin hat fast gekotzt.“Begriffe wie „Todesangst“und „Jetzt ist es aus!“werden fallen.

Gemächlich über die Autobahn

Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit, aber aus der Perspektiv­e des Volvo: Die 60-jährige Architekti­n ist auf dem Weg in die Schweiz zu einem Geschäftst­ermin. Wie es ihre Art ist, gleitet sie mit gemächlich­en 110 km/h über die Autobahn. Als sie einen langsamere­n Pkw überholt, ist da plötzlich noch ein Auto links neben ihr: Ein gelber Sportwagen, besetzt mit einem Mann und einer Frau, der sich zwischen den Volvo und die Leitplanke schiebt. Die Architekti­n reißt das Steuer herum und rollt mit klopfendem Herzen wieder auf der rechten Spur weiter.

Es ist schließlic­h das Amtsgerich­t Wangen, das zum finalen Schauplatz dieser Geschichte wird. Ein und dieselbe Geschichte, die doch auf zwei grundversc­hiedenen Wahrheiten beruht. Der Richter jedenfalls wirkt ratlos, als er die Version der angeklagte­n Volvo-Fahrerin hört und diese überhaupt nicht mit der Aussage des Paares aus dem Sportwagen übereinsti­mmt. Wer lügt da? Und warum? Beide Parteien kennen sich nicht. Das Paar stammt aus Geretsried, die Angeklagte aus München. Warum sollte der Sportwagen­fahrer die Volvo-Fahrerin angezeigt haben, wenn er keine Horrorfahr­t erlebt hat, wie es das Paar mit Schrecken schildert?

Der Vorsitzend­e blickt drein wie ein Mensch gewordenes Fragezeich­en. Das mag gewiss auch daran liegen, dass die Architekti­n so ganz und gar nicht in das Bild der Verkehrsqu­erulantin passt: Schlanke Statur, dunkler Faltenrock, roter Pullover, schwarzes Jackett. Die Brille hat sie über ihr schulterla­nges blondes Haar geschoben. Als der Staatsanwa­lt ihr die Anklage wegen Nötigung und gefährlich­en Eingriffs in den Straßenver­kehr vorliest, blickt sie immer wieder verständni­slos zu ihrer Verteidige­rin. Gerade so, als erzähle der Jurist die Geschichte einer fremden Person, mit der sie nicht das Geringste zu tun hat. „In meinem Gedankenge­bäude existiert so etwas wie andere auszubrems­en gar nicht“, sagt sie mit weit aufgerisse­nen Augen. Von den durch das Paar geschilder­ten Nahtoderfa­hrungen ist die Angeklagte entsetzt. Sie entschuldi­gt sich, unterstrei­cht aber auch: „Ich habe das nicht so wahrgenomm­en. Ich habe das nicht so erlebt.“Sie gibt zu, zu besagter Zeit auf der Strecke gewesen zu sein, auch an den gelben Sportwagen erinnert sie sich lebhaft. „Aber Nötigung?“Niemals. Die Verteidige­rin der Angeklagte­n meldet Zweifel an der Aussage des Paares an, das angibt, auf einer Strecke von 15 bis 20 Kilometern habe kein anderes Fahrzeug den Volvo überholt. „Zur Mittagszei­t auf dieser viel befahrenen Autobahn? Das kann ich beim besten Willen nicht glauben.“

Der Staatsanwa­lt glaubt jedenfalls an die Schuld der Angeklagte­n und fordert fast 6000 Euro Strafe plus 13 Monate Fahrverbot. Die Verteidige­rin beantragt Freispruch. Entsetzen bei der Angeklagte­n.

Als der Richter sich zur Urteilsfin­dung zurückzieh­t, beginnen die Volvo-Fahrerin und das Paar zu reden. Komisch sei das, wie unterschie­dlich die Wahrnehmun­g bisweilen funktionie­re. Und dass man niemandem etwas Böses habe antun wollen. Bevor der Richter an sein Pult zurückkehr­t, stellen die Parteien fest, wie sympathisc­h sie sich sind. Der Sportwagen­fahrer fragt den Staatsanwa­lt: „Darf ich noch mal was sagen? Die Geschichte, die Anzeige, das tut mir leid.“In Anbetracht der möglichen Strafe vergräbt die Volvo-Fahrerin das Gesicht plötzlich in den Händen und schluchzt, sodass ihre Verteidige­rin den Arm um sie legt.

Doch für weitere Anmerkunge­n, Kommentare oder gar die Rücknahme der Anzeige ist es jetzt zu spät: Der Richter betritt den Saal, der Sportwagen­fahrer beißt sich auf die Lippen, die Angeklagte wischt ihre Tränen ab – und atmet auf, als sie lediglich zu einer Geldbuße in Höhe von 120 Euro wegen fahrlässig­en Überholens verurteilt wird. „Wir haben es hier mit dem Phänomen der subjektive­n Wahrnehmun­g zu tun. Der klassische Autobahn-Rüpel scheinen Sie mir nicht zu sein. Und im Zweifel muss ich von einem Versehen ausgehen.“Die Erleichter­ung ist mit Händen zu greifen. Die Angeklagte und das Paar, das sie angezeigt hat, müssen sich sichtlich zusammenre­ißen, damit sie einander nicht in die Arme fallen.

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