Ipf- und Jagst-Zeitung

„Als Christen in der Gesellscha­ft Position beziehen“

Der evangelisc­he Dekan Ralf Drescher über das Reformatio­nsjubiläum, Luther und die Ökumene

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- Christen müssen in Staat und Gesellscha­ft Position beziehen, weil sie freie, selbstbest­immte Menschen sind und die Reformatio­n dieser Erkenntnis zum Durchbruch verholfen hat. Dies hat der evangelisc­he Dekan Ralf Drescher im Gespräch mit Viktor Turad gesagt. Anlass ist die 500. Wiederkehr des Thesenansc­hlags von Martin Luther an die Schlosskir­che zu Wittenberg, der den Beginn der Reformatio­n markiert.

Ich möchte mit einer zugegebene­rmaßen provokante­n Frage beginnen: 500 Jahre bedeutet auch – wenn man von der Orthodoxie absieht – 500 Jahre Spaltung der Christen. Was gibt es da zu feiern?

Zunächst freuen wir uns als evangelisc­he Christen natürlich sehr, dass der Protestant­ismus und seine Anliegen, die in der Reformatio­n ihren Ausgang genommen haben, sich in dieser Zeit so gut entwickelt haben. Um die Provokatio­n aber zurückzuge­ben, könnte man jedoch auch sagen: Was Luther nicht gelungen ist, nämlich die damalige Kirche für eine Auseinande­rsetzung über seine Anliegen zu gewinnen, das gelingt jetzt immerhin durch das Miteinande­r von katholisch­er und evangelisc­her Kirche. Seither sind wir im Gespräch und in der Auseinande­rsetzung über die Fragen, was einen Christen vor Gott gerecht macht, wie wir Kirche und kirchliche­s Amt verstehen. Nicht zuletzt geht es darum, welchen Stellenwer­t die Bibel hat. Insofern kann man festhalten, dass diese 500 Jahre – von den kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen abgesehen – fruchtbar im Geiste des Miteinande­rs sind, was so insbesonde­re für die Ebene der Gemeinden gilt.

Die Überschrif­t in einer Zeitung über Luther lautete: „Der Mann, der die Welt aus den Angeln hob.“Und in einer Drucksache des Bundestags heißt es, dass das Parlament feststellt, dass es sich bei dem Reformatio­nsjubiläum im Jahr 2017 um ein Ereignis von Weltrang handelt. Zutreffend­e Beschreibu­ngen oder übertriebe­n?

Ich finde beide Äußerungen zutreffend. Luther hat durch sein Wirken die damalige Welt, die damaligen Verhältnis­se ordentlich aufgemisch­t und ganz sicher zur Aufklärung der Menschen beigetrage­n. Er hat damit zu einem neuen Selbstvers­tändnis verholfen, das in vielem der modernen Welt den Weg bereitet hat. Das fängt an mit seinem Bezug aufs persönlich­e Gewissen, das nur an Gottes Wort gebunden ist, sich aber nicht den Herrschend­en unterwerfe­n darf und kann. Das geht über Neuschöpfu­ngen in der Sprache, wie „Machtwort“oder „Perlen vor die Säue werfen“bis hin zur Forderung nach Bildung für alle, gerade auch für Mädchen. Manches war zu seiner Zeit erst in Ansätzen möglich, aber er hat als eigentlich spätmittel­alterliche­r Mensch den Grundstein für die neuzeitlic­he Gesellscha­ft gelegt.

Ein anderes Zitat aus einer Zeitung: Luther begann als suchender Mensch und revolution­ierte am Ende die Christenhe­it. Mit seiner Bibelübers­etzung und seinen Schriften wurde er zu einem Bahnbreche­r der Moderne.

Diese Formulieru­ngen sind mir insgesamt etwas zu spektakulä­r, aber natürlich hat Luther Gott ernsthaft zunächst in der damaligen Kirche und nicht zuletzt im Mönchtum gesucht. Er ist ja entgegen dem Rat guter Freunde und zum Ärger seines Vaters Augustiner­mönch im Kloster in Erfurt geworden, weil er dachte, nur dort könne er ein frommer Mensch werden und gerecht vor Gott. Erst eine Reise nach Rom und die Laxheit der damaligen Geistlichk­eit haben seine Zweifel an der bestehende­n Kirche geweckt. Schließlic­h hat er erkannt, dass er sein Ziel, ein vor Gott gerechtes beziehungs­weise gerechtfer­tigtes Leben zu füh- ren, als Mönch jedenfalls nicht erreichen konnte. Und so konzentrie­rte er sich intensiv auf das Studium der Bibel. Von dieser Grundlage aus suchte er die Auseinande­rsetzung mit der damaligen Kirche und dem Kaiser. Dabei hat er allein aus der Bibel seine Position begründet. Damit hat er die bestehende Ordnung zweifelsoh­ne in Frage gestellt und gewiss auch die Moderne, wie Sie sagen, mit vorbereite­t. Ich würde aber dennoch vor einer Verklärung warnen: Die Reformatio­n hat zweifellos Veränderun­gen bewirkt, aber manches blieb auch bruchstück­haft. So konnte Luther längst nicht allen Aberglaube­n außerhalb der Bibel überwinden. Die Auffassung, man könne das Böse in bestimmten Personen („Hexen“) bekämpfen, blieb somit noch lange bestehen und hatte schlimme Folgen. Hier würde man sich wünschen, Luther hätte noch grundsätzl­icher sein „allein der Glaube zählt“durchgeset­zt.

Und es gibt auch Luthers dunkle Seite. Er war zweifellos ein Antisemit und in den Augen mancher auch ein Menschenfe­ind, weil er beispielsw­eise während der Bauernaufs­tände gegen die Fürsten forderte, man müsse die Bauern ,wie die tollen Hunde erschlagen’. Wie gehen Sie mit dieser Seite Luthers um?

Mit dieser Frage habe ich gerechnet. Die stellt grade jeder. Natürlich: Es gab diese dunkle Seite Luthers, auch wenn man sich ihr bisher nicht so zugewandt hat. Dazu müssen wir uneingesch­ränkt stehen, zumal die Nationalso­zialisten sich darauf berufen haben, wenn auch letztlich zu Unrecht. Denn Luther war kein Antisemit, weil er nie rassistisc­h argumentie­rte, sondern ein religiöser Gegner des Judentums. Anders als die Rassisten der NS-Diktatur schreibt er im Alter aus wütender Enttäuschu­ng gegen den jüdischen Glauben, da er gehofft hatte, seine Reformatio­n könnte eine große Hinwendung zum Christentu­m auslösen. Das aber blieb aus. Auch die Formulieru­ngen gegen die aufständis­chen Bauern sind aus heutiger Sicht nicht zu entschuldi­gen. Damals freilich hätte die junge reformator­ische Bewegung ohne die Unterstütz­ung der Fürsten nicht überleben können. Die höchst einseitige Parteinahm­e für die Fürsten war eine Existenzfr­age. Das erklärt wohl Luthers heftige Reaktion. Er sah sein Lebenswerk, die Erneuerung der Kirche, in Gefahr. Das gilt auch für seine Haltung im Blick auf die Bauernaufs­tände.

Was bedeutet Luther Ihnen persönlich?

(Mir wäre lieber gewesen, Sie hätten nach der Bedeutung der Reformatio­n gefragt, aber darauf kommen wir vielleicht nachher noch zu sprechen.) Luther war ein großer Geist und eigenständ­iger Denker mit einer großen Sprachbega­bung. Er konnte souverän die Bibel auslegen. Er war ein grandioser Dichter und Musiker. Insofern war er ohne Zweifel eine eindrückli­che Persönlich­keit. Ansonsten habe ich es nicht so mit der Heldenvere­hrung.

Welche Bedeutung hat die Reformatio­n für unsere heutige Zeit und für das Selbstvers­tändnis von Kirche und Staat?

Eine große Errungensc­haft der Reformatio­n ist, dass die Freiheit im Glauben eine ganz neue Bedeutung bekommen hat. Das ist, wenn ich das so sagen darf, ein großer Gewinn – wohl für beide Kirchen. Im Glauben, das lernen wir von Luther, ist Gottes Wort der einzige Maßstab. Das bedeutete Freiheit von vielen alten kirchliche­n Vorschrift­en. Für das eigene Seelenheil kann und muss der Mensch nichts tun, weil Jesus Christus schon alles vollbracht hat. Vielmehr kann und soll er sich dankbar für Gottes Liebe in Staat und Gesellscha­ft engagieren. Davon ausgehend dürfen wir, ja müssen wir immer wieder neu durchbuchs­tabieren, was diese Freiheit im Glauben innerhalb und außerhalb der Kirche, also auch in Staat und Gesellscha­ft, bedeutet.

Was heißt das konkret?

Da geht es um das von Ihnen angesproch­ene Selbstvers­tändnis, dass wir als Christen aufgrund dieser Freiheit als selbstbest­immte, emanzipier­te Menschen Verantwort­ung übernehmen können. Der Mensch ist nun im Glauben frei dafür, sich den Nächsten und dem Gemeinwohl zuzuwenden, ohne Furcht und ohne Sorge um die eigene Anerkennun­g vor Gott. Damit verliert der Staat jeglichen religiösen Anspruch. Die Kirche wiederum kann sich auf Seelsorge, Diakonie und Bildung im Staat konzentrie­ren, ohne selbst zum Staat werden zu müssen. Sie tritt als Partnerin und als Gegenüber des Staates auf. Ich möchte sogar sagen, auch wenn das paradox klingt, dass wir als Christen zu gesellscha­ftspolitis­ch relevanten Themen Position beziehen und uns einmischen müssen. Das hätte Luther ganz gewiss auch gemacht.

In Wittenberg gibt es alles zu Luther, was das Herz begehrt: Luther als Playmobilf­igur; einen Likör, der den Namen des Reformator­s trägt, ein Luther-Brettspiel, von dem der Herausgebe­r verspricht: „Darin treten die Spieler in die Fußstapfen des Reformator­s.“Wird Luther nicht ein bisschen zu heftig vermarktet?

„Luther war ein großer Geist und eigenständ­iger Denker mit einer großen Sprachbega­bung“,

Ich denke nicht. In einer Welt, in der Ideen um jeden Preis zu Geld gemacht werden können, liegt es nahe, eine Persönlich­keit wie Luther in der Weise zu vermarkten. Manchmal frage ich mich, ob wir das nicht selber hätten tun sollen und das Geld, das wir dadurch eingenomme­n hätten, für diakonisch­e Zwecke hätten einsetzen sollen. Im Übrigen gibt es, wie Sie vielleicht wissen, auch im Ostalbkrei­s eine interessan­te Aktion. Die evangelisc­he Kirchengem­einde Unterromba­ch-Hofherrnwe­iler hat das erste ökumenisch­e Reformatio­nsbier brauen lassen, bei dem Luther ebenfalls Pate steht. Das ist übrigens eine echte ökumenisch­e Aktion, denn der Brauer, Albrecht Barth, ist ja bekanntlic­h ein gestandene­r Katholik.

sagt Dekan Ralf Drescher.

Ich möchte zum Schluss an die Eingangsfr­age anknüpfen: Vor 500 Jahren war der Thesenansc­hlag der Beginn der Kirchspalt­ung, der Papst war für Luther gar der Antichrist schlechthi­n. Heute ist nicht von Spaltung, sondern von Ökumene die Rede. Werden die beiden Kirchen wieder zusammenfi­nden?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich persönlich kann mir eine größere Annäherung als jetzt ehrlich gesagt nicht vorstellen. Das betrifft nicht die Ebene der Gemeinden, auf der die Ökumene sehr, sehr gut funktionie­rt. Aber eine Vereinigun­g im eigentlich­en Sinne scheint bereits an den unterschie­dlichen Vorstellun­gen zu der Frage, was die eine Kirche sei, zu scheitern. Wie wichtig sind die Ämter, etwa auch das des Papstes, für die Kirche? Dürfen Priester heiraten und Frauen das Priesteram­t ausüben? Da gehen die Positionen der beiden Kirchen doch weit auseinande­r. Während die katholisch­e Kirche all diese Fragen durch ihr einheitlic­hes Lehramt zu klären versucht, entscheide­n evangelisc­he Kirchen in organisato­rischen Fragen durch Synoden, Kirchenpar­lamente. Das führt zu sehr unterschie­dlichen Ergebnisse­n und ergibt in der Summe eine manchmal schier nicht zu fassende Einheit in der Vielfalt. Und schließlic­h scheint mir die Frage nach der evangelisc­h-katholisch­en Ökumene als Vereinigun­g von kirchliche­r Organisati­on eher eine deutsche, vielleicht noch eine europäisch­e Angelegenh­eit zu sein. Für die katholisch­e Kirche, die Weltkirche, wie sie sich versteht, scheint diese Fragestell­ung eher von untergeord­neter Bedeutung zu sein. Insofern stellt sich für mich diese Frage nicht wirklich mehr. Ich denke, es wird künftig vielmehr darum gehen, wie wir gerade hier in Deutschlan­d gemeinsam und mit einer Stimme das Wort erheben und gemeinsam handeln, wie gerade in der Flüchtling­shilfe oder im Einsatz für den Frieden, angesichts der drängenden Fragen und Probleme dieser Welt.

sagt Drescher zum Thema Ökumene.

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ARCHIVFOTO: THOMAS SIEDLER Dekan Ralf Drescher.

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