„Unsere Kunden brauchen derzeit Geduld“
Deutschlands oberste Handwerker über Digitalisierung, Meisterpflicht und fehlende Maurer
- Die Auftragsbücher sind voll, das Geschäft im Handwerk läuft – und doch blickt Hans Peter Wollseifer nicht ohne Sorgen in die Zukunft. Aber nicht wegen Digitalisierung oder europaweiter Konkurrenz macht sich der Präsident des Zentralverbands des deutschen Handwerks (ZDH) Gedanken, sondern wegen fehlender Facharbeiter und ausbleibender Lehrlinge. Benjamin Wagener hat sich mit dem 61Jährigen Malermeister über Flüchtlingsintegration und Meisterzwang unterhalten – und ihn gefragt, warum keiner mehr Metzger werden will.
Herr Wollseifer, wie läuft es beim deutschen Handwerk?
Das Handwerk ist hervorragend ins Jahr 2017 gestartet: Das erste Quartal 2017 war das erfolgreichste seit der deutschen Einheit. Beim Umsatz, der Geschäftslage und Beschäftigung und – was erfreulich ist – auch bei den Investitionen liegen die Zahlen deutlich über den Ergebnissen der Vorjahre.
Wie wichtig ist das Handwerk für die Wirtschaft?
Das Handwerk ist Mittelstand par excellence. Abgesehen von der volkswirtschaftlichen Bedeutung übernehmen wir gesellschaftspolitische Verantwortung und sind der Dienstleister und Versorger der Nation. In allen Regionen sichern Handwerksbetriebe Ausbildung und Beschäftigung. So leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Wohlstand Deutschlands, stabilisieren die Wirtschaft und fördern maßgeblich den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Geht es allen Branchen gut oder gibt es auch Probleme?
Besonders gut läuft es bei den Bauund Ausbaugewerken, mittlerweile aber auch wieder im Kraftfahrzeughandwerk. Auf dem Bau gibt es Auftragsreichweiten von mehr als zehn Wochen. Und obwohl die Betriebe bereits an ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten, brauchen unsere Kunden derzeit schon etwas Geduld. Ein großes Problem ist, dass uns die Fachkräfte und Lehrlinge fehlen, um alles bewältigen zu können.
Warum fehlt dem Handwerk der Nachwuchs?
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Schulabgänger pro Jahr deutlich zurückgegangen. Inzwischen gibt es einen harten Wettbewerb um junge, engagierte Leute. Das Streben nach immer höheren Bildungsabschlüssen hat außerdem dazu geführt, dass sich der Ausbildungsmarkt grundlegend verändert hat. Heute beginnen rund 60 Prozent eines Jahrgangs ein Studium, noch vor zehn Jahren starteten so viele eine duale Ausbildung. Da kann man schon fragen, ob das nicht am Arbeitsmarkt vorbei geht.
Kann das Handwerk denn die Menschen noch versorgen, wenn so viele Facharbeiter fehlen? Sprich: Gibt es noch genug Maurer?
Die Versorgung ist gewährleistet: Die Verbraucher finden zurzeit noch genügend Betriebe in allen Regionen, um Arbeiten in Auftrag zu geben. Wegen der prall gefüllten Auftragsbücher kann es allerdings zu Wartezeiten kommen, mitunter ist schon ein bisschen Geduld gefragt.
Vor allem das Lebensmittelhandwerk hat Probleme: Warum will keiner Bäcker oder Metzger werden?
Bei den Fleischern bleibt fast jeder dritte Ausbildungsplatz unbesetzt, bei den Bäckern ist es jeder vierte. Uns bereitet das natürlich Sorgen, weil dadurch später die Fachkräfte fehlen. In den Lebensmittelhandwerken produzieren wir eine sehr hohe Qualität. Das können wir nicht mit Angelernten machen, da brauchen wir Fachkräfte. Deshalb ist es wichtig, junge Leute zu überzeugen, dass es in diesen Berufen tolle Möglichkeiten gibt, sich zu verwirklichen und auch gutes Geld zu verdienen.
Verdient man denn im Handwerk gutes Geld? Werden nicht viele Lehrlinge von der Industrie mit höheren Löhnen abgeworben?
Andere Wirtschaftsgruppen haben unsere gut ausgebildeten Leute immer sehr gerne übernommen. Gerade dort, wo die Autoindustrie sitzt, werden teils Löhne angeboten, die höher sind als die, die ein Handwerker zahlen kann. Da hat die Industrie sicher andere Möglichkeiten. Das heißt aber nicht, dass man nicht auch im Handwerk gut verdienen kann.
Die Digitalisierung verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Wirtschaft. Wie ist das Handwerk betroffen?
Die Digitalisierung hat das Handwerk längst erreicht. 95 Prozent unserer Handwerksbetriebe haben eine eigene Webseite. 58 Prozent der Handwerksbetriebe setzen auch auf Softwarelösungen, um ihre betrieblichen Abläufe zu steuern. Jeder vierte Betrieb nutzt die moderne Technologie für die Produktion. In jeder Branche gibt es Beispiele: Selbst Bäcker und Metzger produzieren mit digital gesteuerten Maschinen.
Im digitalen Haus der Zukunft ist alles vernetzt, man steuert Fenster, Heizung, Kühlschrank, Türschloss, Fernseher und Licht digital mit seinem Handy. Wer ist zuständig? Der Heizungsbauer, der Maurer oder der Elektroinstallateur?
Dass auf einer Baustelle mehrere Gewerke zusammenarbeiten, das ist für das Handwerk Alltag und wird meines Erachtens auch so bleiben. Das Produktportfolio wird sich vergrößern. Der eine oder andere Handwer- ker wird möglicherweise noch stärker gewerkeübergreifend tätig werden, sofern er dafür die Qualifikation hat. Aber auch künftig wird es wohl so sein, dass man den Heizungsbauer anruft, wenn man eine Heizung fernsteuern will.
Das Auto verändert sich sehr schnell. Schon bald könnte ein großer Teil der Fahrzeuge elektrisch und autonom fahren. Reagiert das Kfz-Handwerk angemessen oder gehört das Gewerk zu den großen Realitätsverweigerern?
Von Realitätsverweigerung kann gar keine Rede sein. Die Kfz-Betriebe stellen sich auf die Veränderungen ein. Der Beruf des Kfz-Mechatronikers wird sich weiter ändern, aber seine Berechtigung behalten. Weder autonomes Fahren noch Elektromobilität werden das Kfz-Handwerk überflüssig machen.
Die SPD hat Teile der Agenda 2010 zur Disposition gestellt. Im Rahmen der Reform ist 2004 auch die Handwerksordnung erneuert worden. Hat sich das bewährt?
Aus Sicht des Handwerks ganz klar nein. Die Änderungen in der Handwerksordnung haben dazu geführt, dass die Zahl der Solo-Selbstständigen enorm gestiegen ist. Tausende haben sich selbstständig gemacht und mussten dafür keinerlei Qualifikation vorweisen. Denn bei den zulassungsfreien Gewerken kann jeder, der sich anmeldet, das Handwerk ausüben und einen Betrieb führen. Der Kunde hat das Nachsehen: Es fehlt das Qualitätsversprechen, für das der Meister steht. Das kratzt an unserem Image.
Wie stehen die Betriebe ohne Meisterpflicht wirtschaftlich da?
Viele Solo-Selbstständige können es sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation nicht leisten, ausreichend für den Krankheitsfall oder das Alter vorzusorgen. Das fällt dann aber irgendwann der Allgemeinheit auf die Füße: Wenn sich Tausende SoloSelbstständige nicht altersversichern, werden sie später staatliche Unterstützung benötigen.
Das Handwerk hat im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen sein Versprechen gehalten, eine große Anzahl von Flüchtlingen zu integrieren. Was war Ihre Motivation?
Da sind Menschen aus Kriegsgebieten gekommen und haben Schutz gesucht. Wir als Handwerk sehen uns nicht als reine Wirtschafts-, sondern auch als tragende Gesellschaftsgruppe. Aus dem Selbstverständnis heraus haben wir es als humanitäre Verpflichtung angesehen, hier zu helfen.
Wie viele Flüchtlinge hat das Handwerk untergebracht?
Im Jahr 2016 lernten knapp 4600 junge Leute aus den acht häufigsten Asylzugangsländern im Handwerk, ein Zuwachs von über 2900 Personen binnen drei Jahren. Etliche weitere Tausend junge Menschen mit Bleibeperspektive befinden sich in Praktika, in Ausbildungsvorbereitungskursen oder Berufsorientierungsmaßnahmen. Die ersten, die vor ein paar Jahren gekommen sind, sind mittlerweile schon Facharbeiter. Das ist auch gut so. Flüchtlinge sollen ja nicht von den Sozialsystemen leben müssen, sondern sollen sich einbringen, arbeiten und ihren Beitrag zu unseren Sozialsystemen leisten. Der überwiegende Teil will das übrigens auch.
Das Handwerk, wie Sie es beschreiben, hilft, das Gemeinwesen zusammenzuhalten. Wie erklären Sie sich dann die Verunsicherung und die Angst in Zeiten, in denen es sehr vielen Menschen sehr gut geht?
Es ist ein gutes Deutschland, in dem wir zurzeit leben. Aber gerade weil es uns so gut geht, steigen die Verlustängste. Ich bin überzeugt, das beste Mittel dagegen sind Qualifizierung und Bildung. Gut ausgebildete, gut qualifizierte junge Leute, ob im Handwerk oder in anderen Bereichen, bekommen gute Jobs und haben vernünftige Einkommen. Das stabilisiert die Familien und die Gesellschaft. Jeder Einzelne tritt dann selbstsicherer auf. Das verringert auch die Gefahr, Besserwissern und Schlechtredern hinterherzulaufen.
Handwerker gehören in Deutschland zu den tragenden Säulen der Wirtschaft. In der Serie „Unser Handwerk“beleuchtet die „Schwäbische Zeitung“die Herausforderungen, denen sich das Handwerk in dieser Zeit stellen muss. Am nächsten Samstag geht es um die so emotional geführte Debatte um den Meisterzwang. Im Internet unter schwaebische.de/unser-handwerk sind alle bislang erschienenen Artikel der Serie nachzulesen.