Sechseinhalb Jahre Haft für Flüchtling
Sechs Jahre und sechs Monate Haft für einen Syrer, weil er ein Bombenattentat plante – Musterfall für Radikalisierung eines Flüchtlings
(dg) - Wegen Anschlagsplänen in Dänemark verurteilte das Landgericht Ravensburg einen Flüchtling zu sechs Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Syrer Materialien – Streichhölzer, Batterien und Funkgeräte – gekauft hatte, mithilfe derer in Kopenhagen mehrere Bomben gezündet werden sollten. Der mittlerweile 21-Jährige habe sich nach seiner Einreise im Sommer 2015 in Deutschland massiv radikalisiert.
- Nachdem der Richter sein Urteil verlesen hat, nehmen Besucher, Pressevertreter und Juristen wie üblich Platz. Der Angeklagte bleibt jedoch stehen. Mit gespreizten Fingern stützt er sich auf den Tisch im Landgericht Ravensburg, das Haupt gesenkt, wie erstarrt von dem Gehörten. Langsam setzt sich der schmale junge Mann schließlich hin, beugt sich nach vorne und vergräbt den Kopf zwischen seinen Beinen. Es lässt sich leicht vorstellen, wie der Urteilsspruch, einer Schockwelle gleich, durch seinen Körper geschossen sein muss.
Sechs Jahre und sechs Monate Jugendstrafe. Weil er bereit war, so der Richter, einen Mord zu verüben, das schwerste Verbrechen, welches das Recht kennt. Und weil er eine „staatsgefährdende Gewalttat“vorbereitet hatte. Mit 17 000 Streichhölzern und anderen Materialien für den Bau wohl gleich mehrerer Bomben war er von Biberach aus Richtung Dänemark gereist, um dort einen Komplizen des „Islamischen Staates“zu treffen, um, so die Überzeugung des Gerichts, als Märtyrer zu sterben. Und um unschuldige Menschen mit in den Tod zu nehmen. Allein eine Nachlässigkeit verhinderte die Einreise ins Nachbarland, er hatte seinen Reisepass in der Biberacher Asylunterkunft liegen gelassen.
Ein außergewöhnlicher Fall
Vermutlich war der heute 21-Jährige von einer geringeren Strafe ausgegangen, hatte die Staatsanwaltschaft doch lediglich fünf Jahre Haft gefordert, aus Sicht des Gerichts jedoch ein „außergewöhnlich milder Antrag“, diese Einschätzung teilte nach Prozessende auch der Anwalt des Angeklagten. Insofern geht das Urteil wohl in Ordnung, auch wenn es für alle Prozessbeteiligten ein schwieriger und „in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlicher Fall war“, wie der Richter feststellte. Außergewöhnlich wegen der Schwere der Tatabsicht und wegen der „vollständigen Radikalisierung“des Angeklagten. Bemerkenswert aber auch, weil der junge Mann auf der einen Seite über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt, wie eine Gutachterin bescheinigte, auf der anderen Seite mit schon grenzenloser Naivität nach Deutschland kam. Eine Blaupause und ein Musterbeispiel dafür, wie ein junger Flüchtling anfällig werden kann für die radikalen Einflüsterer des „Islamischen Staates“. Weil er die hiesige Kultur nicht versteht, kommt er selbst doch aus einem völlig anderen Kulturkosmos.
Seine Eltern werden im Alter von 17 beziehungsweise 18 Jahren verheiratet und leben in Madaya, rund 40 Kilometer nördlich von Syriens Hauptstadt Damaskus, zunächst unter dem Dach des Vaters des Bräutigams, so üblich in der ländlichen Region. Der Großvater des jetzt Verurteilten ist Landwirt, der Vater gründet ein Schuhgeschäft. „Das Leben dort ist vom Islam geprägt und aus einer Stammeskultur heraus entstanden“, erklärte vor Gericht die Ravensburger Psychiaterin und Gutachterin Roswitha Hietel-Weniger.
Die Männer präsentieren die Familie, die Frauen kümmern sich um den Haushalt und die Kinder. „Es ist ein ganz altes System, ein archaisches und ein patriarchalisches System“, so Hietel-Weniger. In der die Ehre über dem Individuum steht. Als Erstgeborener des jungen Paares ist die Rolle des jetzt Verurteilten vorbestimmt, er ist der Auserwählte, der spätere „Stammesführer“, das Oberhaupt der Familie.
Was es heißt, in einer solchen Welt zu leben, muss er im Alter von elf Jahren mit ansehen. Ein fremder Mann hat die Verlobte eines Cousins angesprochen, ein Tabubruch. Es kommt zur Blutfehde, bei der dieser Cousin und zweiter Cousin sterben. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, treffen sich die Patriarchen und beschließen, dass von beiden Familien jeweils eine Person ins Gefängnis muss. So kommt es und der Fall ist beigelegt. „Die Familie lebt in einem völlig anderen Normenverhältnis als bei uns“, sagt dazu HietelWeniger, einem, in dem der Einzelne hinter der Gruppe zurücksteht.
Ab 2011 wird die Lage mit dem Arabischen Frühling unsicherer, der Bürgerkrieg beginnt. 2016 erlebt Madaya eine humanitäre Katastrophe, eingeschlossen von Assads Soldaten und der Hisbollah verhungern die Menschen, die Bilder von den dahinsiechenden Kindern mit ihren ausgehöhlten Augen und den dürren Armen gehen um die Welt. Doch so weit ist es damals noch nicht, unser Mann erweist sich als intelligent, macht Abitur und beginnt in Damaskus ein Ingenieurstudium. Von Heimweh geplagt, telefoniert der Sensible täglich zwei Stunden mit der Mutter – und wird ohne Vorwarnung und ohne Grund, wie er sagt, vom Assad-Regime verhaftet. Drei Tage verbringt er im Gefängnis zusammengepfercht mit 60 Häftlingen in der Zelle. Anschließend, von Schlafstörungen und Ängsten geplagt, reift der Gedanke an eine Flucht nach Deutschland, wo er sich mit dem Fußballidol Thomas Müller identifiziert, sein Studium fortsetzen und ein neues Leben beginnen möchte. „Die Planungen zeigen, wie wenig Realitätssinn er hatte“, sagt Hietel-Weniger, die von „Tagträumerei“spricht.
Kulturschock nach Flucht
So unvorbereitet erreicht er im Sommer 2015 Deutschland. „Und erlebt nach der Flucht einen Kulturschock“, wie auch die Gerichtspflegerin in einem weiteren Gutachten diagnostiziert. Schock, weil die hiesige Kultur seiner diametral entgegensteht. Verwundert stellt er fest, dass allerorts Alkohol ausgeschenkt wird, er tut sich mit der Sprache schwer und wird in der Asylunterkunft gemobbt. Ohne die Autorität des Vaters „hat er keine Orientierung“. Und, so die Psychiaterin: „Er versteht unser System der Demokratie nicht.“
Ausgegrenzt zieht er sich zurück und schreibt im Internet: „Ich bin verzweifelt. Ich bin im Stich gelassen worden“, wen auch immer er damit anklagt. „Er hat sich isoliert gefühlt im Feindesland“, so beschreibt Hietel-Weniger seinen Seelenzustand.
In dieser Lage sucht er Halt im Bekannten: dem Glauben. Stundenlang surft er durchs Internet, beginnt Chats, auch mit Islamisten. Er ist nicht sofort vom „Islamischen Staat“überzeugt, so die Psychiaterin, ungefähr vier Monate setzt er sich mit deren Gedanken auseinander, stellt immer wieder auch kritische Fragen. Und findet schließlich doch in den Radikalen eine neue „Familie“. Irgendwann schreibt er in einem Chat: „Ich bin bereit zu allem. Ich mache, was ihr wollt.“
Neue Heimat beim IS
Allein wie der Angeklagte übergangslos von seinem autoritären Elternhaus zum „Islamischen Staat“als innere Heimat und Referenzgröße wechselt, zeugt, laut Expertinnen, von Unreife, weshalb sich alle Prozessbeteiligten einig waren, nicht das Erwachsenen-, sondern das Jugendrecht anzuwenden.
Dennoch bleibt, so der Richter, nicht nur das Mordmerkmal der Heimtücke, sondern auch jenes der Gemeingefährlichkeit, weil ein Bombenattentat eine brachiale Wirkung entfaltet hätte. Zwar beteuerte der Angeklagte, er habe die Sachen nur nach Dänemark bringen, aber keineswegs beim Anschlag mitmachen wollen. Das nahm ihm die Kammer aber nicht ab. „Er war zu 100 Prozent IS-gefärbt“, bekräftigte der Richter.
Wie viel Prozent davon geblieben sind, bleibt offen. Sein Vater hat ihn im Gefängnis besucht, der Kontakt zur Familie ist wieder eng. In seinem Schlusswort sagte er über sein Handeln: „Ich war auf dem falschen Weg. Wenn dieser Weg der richtige wäre, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.“
Während der Richter vorträgt, legt der 21-Jährige einmal die Stirn auf den Tisch, am Ende klopfen ihm sein Anwalt wie auch die Dolmetscherin beruhigend auf die Schulter. Über seinen Anwalt lässt er verlauten, eine Revision komme nicht infrage, er wolle die Strafe verbüßen. Zu wem oder was er sich in der Haft entwickelt, kann heute jedoch niemand sagen. Genauso, wie wohl niemand sagen kann, wie viele junge Flüchtlinge sich „isoliert im Feindesland“fühlen.