Nur die Ruhe
Jedes Jahr fallen Zigtausende Metalheads im beschaulichen Wacken ein
(dpa) - Klinkerhäuser, manche davon mit Reetdach – Wacken ist ein typisches norddeutsches Dorf. Die Menschen kennen einander und grüßen sich auf der Straße. Und wo jeder jeden kennt, da herrscht ein hoher sozialer Druck, gepflegte Vorgärten zu präsentieren, weil ein ungepflegter Vorgarten auf eine unbehauste Seele verweisen könnte. Auf den Feldern rund um die 1800-Seelen-Gemeinde grasen Holstein-Rinder. Wer die Region nur durchfährt, erhält schnell den Eindruck, dass sie gegenüber Menschen in der Überzahl sind. Doch für ein paar sehr laute Tage im August ist alles anders.
Zum Wacken Open Air, das heute beginnt und bis Samstag dauert, pilgern regelmäßig Zehntausende Metalfans in die Region. Deren Populationsdichte schwillt gefühlt auf die einer durchschnittlichen Schwellenlandsmetropole an. In vielen sonst penibel gepflegten Vorgärten werden Bierstände und Imbissbuden aufgebaut. Zur 28. Auflage des Festivals wurden rund 75 000 Karten verkauft.
Die Festivalzeit ließe sich gut als Ausnahmezustand beschreiben, doch anders als im Katastrophenfall haben sich in Wacken und Umgebung alle darauf eingestellt. Denn der Ausnahmezustand bringt keine Verheerungen mit sich. Er ist ein Konjunkturprogramm. Von der Invasion der Kuttenträger profitieren Region und Menschen.
Wer im Kreis Steinburg während des Festivals Betten anbietet, kann sich vor Buchungsanfragen kaum retten. Und auf dem überschaubaren Straßennetz des Orts entsteht – trotz Straßensperren – ein umweltfreundlicher Taxi- und Transportservice: Schüler transportieren Metalfans oder deren Gepäck mit Kettcars von Anach B. Im Gegenzug verlangen sie eine kleine Spende.
Der Durst ist gewaltig
Auch Jan (13) und Paul (10) aus Wacken haben ihre Nische gefunden. Mit einem kleinen Handwagen sammeln die beiden Freunde Pfand ein. Auch schon vor dem offiziellen Startschuss, dem Konzert des Wacken-Urgesteins Skyline, gehen sie auf Sammeltour. Dass der Durst der Besucher gewaltig ist, zeigt sich bereits daran, dass allein auf dem Festivalgelände jedes Jahr rund 400 000 Liter Bier getrunken werden. „Die trinken immer früher und immer mehr“, sagt Jan, der beim Wacken bereits so ein alter Hase ist, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, wann das Festival ihm das erste Mal geholfen hat, sein Taschengeld aufzubessern.
Seine These kann der 13-Jährige belegen: „Viele basteln mit Klebeband Skulpturen aus den leeren Bierdosen“, sagt er. „Normalerweise sieht man das immer erst am Ende des Festivals. Diesmal sind schon vorher ganz viele fertig“, sagt er, während im Hintergrund schon wieder neue Metalfans mit Rucksäcken eintreffen, begeistert „Wacken“schreien und die Finger zur „Pommesgabel“, dem bekannten Metallergruß, in die Luft recken.
Den dauerhaften Bewohnern der Stadt ist das recht, besonders denen, die vom Biergeschäft profitieren. Und noch andere freuen sich über die Besucher: Mücken.
Denn davon gibt es auf den morastigen Wiesen in der an Niederschlägen reichen Region genug. Auf den Zeltplätzen finden sie plötzlich Nahrung im Überfluss. Dafür gibt es in den Festivalshops eine Mückenstichcreme mit Wacken-Logo zu kaufen. Die stoische Gelassenheit, mit der selbst unbeteiligte Anrainer das Metalspektakel betrachten, zeigt sich auch bei der Ankunft des Metaltrain in Itzehoe am Mittwochmorgen, einem Sonderzugs mit etwa 500 Metalfans an Bord. Zusammen mit Zwergspitzdame Jana beobachtet Renter Horst Wülfken das Treiben vor seiner Haustür am Itzehoer Bahnhof. „Die sind friedlich und machen Platz wenn Jana muss“, sagt er – und findet, dass damit alles zum Wacken gesagt ist.