In Houston beginnen die Aufräumarbeiten
Der Houstoner Vorort Cinco Ranch wurde zum Schutz der Innenstadt geflutet
- Früher schlängelte sich die Mason Road durch gepflegtes Suburbia, typisches Vorortmilieu mit akkurat gemähten Rasenflächen und Basketballkörben an den Bürgersteigen. Heute führt sie durch eine Landschaft, die Benny Pastora einen apokalyptischen Alptraum nennt. Ein furchtbarer Gestank liegt über dem Viertel, scheinbar sinnlos ragen Stoppschilder aus dem Wasser, vereinzelt auch Autodächer. Über dem Schlamm am Rand des Sees schwirren riesige Libellen, während Mückenschwärme Jagd auf nackte Waden machen.
Es ist der Tag sechs nach der großen Flut, nach dem apokalyptischen Sonntag, an dem der Tropensturm Harvey einen Regen nach Houston brachte, wie ihn noch keine amerikanische Stadt erlebt hat. Während das Wasser in den meisten Vierteln so weit gesunken ist, dass auf den Straßen der Verkehr wieder rollt, ist an der Mason Road kein Ende des Elends in Sicht. Denn wo die Allee mit ihren blühenden Myrten beginnt, grenzt sie an ein Rückhaltebecken, von dem die Einwohner inzwischen sprechen wie von einem Damoklesschwert.
Noch nie musste das Barker Cypress Reservoir in so kurzer Zeit so viel Wasser auffangen. Um es nach und nach ablaufen zu lassen, werden Schleusen geöffnet. Dennoch bleibt die Gefahr, dass die altersschwachen Deiche dem hohen Druck der Wassermassen nicht standhalten, dass sich eine Flutwelle Richtung Innenstadt wälzen könnte. „Es ist die Wahl zwischen zwei Übeln“, sagt Pastora. „Und sie haben sich für das kleinere entschieden.“
Untergegangen in einer Kloake
Das kleinere Übel bedeutet, eine Einfamilienhaussiedlung namens Cinco Ranch, rund 40 Kilometer westlich vom Zentrum, auf absehbare Zeit unter Wasser zu setzen. Der Vorort ist untergegangen in einer Kloake. Die Kanalisation hat offenbar Schaden genommen, sodass Exkremente im Wasser schwimmen. Gerüchte gehen um, dass es nur so wimmelt von Schlangen.
Bis Sonntag hat Benny Pastora in dem Viertel gewohnt, Dozent einer Universität, verheiratet mit Helen, einer Violinistin. 1995, damals brauchten sie Platz für ihre fünf Kinder, kauften sie ein geräumiges Haus in Cinco Ranch. Houston wuchs und wuchs, es wurden Siedlungen mit monotoner Architektur und wohlklingenden Namen ins Umland gebaut, auch direkt neben ein Auffangbecken im Westen der Stadt. Als das Barker Cypress Reservoir in den 1930er-Jahren angelegt wurde, soll die Army davor gewarnt haben, in seinem Umkreis Häuser zu bauen. Nach Harvey scheinen sich alle wieder daran zu erinnern.
Am entgegengesetzten Ende der Stadt, in einem Vorort namens Crosby: weiße Zäune, Kuhweiden, Pferdekoppeln. Von Fluten ist kaum noch etwas zu sehen, und bis zu Dan Harris’ Ranch auf einem Hügelchen an der Euell Road sind sie ohnehin nie gekommen. Dafür durchlebt Crosby die Katastrophe nach der Katastrophe. In der Nacht zum Donnerstag wurden die Bewohner von zwei Explosionen in einem Chemiewerk aus dem Schlaf gerissen. Es kam zur Havarie, als Notstromaggregate in fast zwei Meter hohem Wasser versanken. Die vom französischen Betreiber Arkema benutzten Chemikalien müssen aber ständig gekühlt werden. Schwarzer Rauch zwang die Behörden zum Handeln, im Umkreis von zweieinhalb Kilometern wurde die Gegend rings um die Fabrik evakuiert. Harris wohnt nur wenige Meter außerhalb der Sperrzone. Er sitzt in einem Golfcart und verbreitet gute Laune. Solange ihn keiner auffordert, denkt er gar nicht daran, wegzuziehen.
Die geradezu biblischen Regenfälle sieht Harris als einen Ausnahmefall, für den man einfach nicht planen könne. „Du kannst keinem vorschreiben, dass er sich auf eine 52-Inch-Flut einzustellen hat. Das wäre zu teuer.“52 Inch entsprechen 132 Zentimetern, solche Regenmengen hat Harvey nach Houston gebracht. 52, es ist die Zahl, die sich im kollektiven Gedächtnis der Stadt festsetzen wird. „Bist du Demokrat, dann ist die globale Erwärmung an allem schuld. Bist du Republikaner, glaubst du daran, dass die Erde natürliche Zyklen durchläuft“, sagt Harris zum Thema Klimawandel. Wo er selber steht, daran lässt er keinen Zweifel. „Al Gore hat Millionen mit seinem Weltuntergangsgerede verdient. Aber ein Hurrikan ist ein Hurrikan. Was willst du dagegen machen?“
Klimadebatte neu entfacht
Bei Weitem nicht jeder in Houston sieht das so. Es gebe nun mal diesen unsichtbaren Elefanten im Raum, auch wenn mancher nicht über ihn reden wolle, schreibt Vernon Loeb, der Chefredakteur des „Houston Chronicle“. Dieser Elefant namens globale Erwärmung sei hier in Amerika, aber längst auch in Afrika, in Nahost und der Antarktis. Ob Harvey einen Wendepunkt in der amerikanischen Klimadebatte markiert, ist fraglich. Juan Barras, ein Umweltaktivist, findet, dass es höchste Zeit wäre. Andererseits weiß er nur zu gut, mit welchem Markenzeichen Houston für sich wirbt: Energie-Kapitale der Welt. In einer Stadt, in der alles am Öl und am Gas hängt, der Wohlstand, die Steuereinnahmen, die Spenden für lokale Politiker, in so einer Stadt habe ökologische Weitsicht einen sehr schweren Stand – auch nach Harvey, glaubt Barras.
Kim Le findet, dass es nirgends auf der Welt eine bessere Stadt gibt als Houston. Nie im Leben würde sie wegziehen, betont die 25-jährige Zahnarzthelferin. Dieses Zusammenstehen in der Not, wie jetzt gerade, das sei das wahre Houston. Sie sitzt in einer Messehalle, um Evakuierte zu registrieren. Auf Tischen stapeln sich Babywindeln, Zahnbürsten, Seifenschachteln, Socken, Hemden, Hosen, alles gespendet. Doch der Ansturm der Evakuierten hält sich in Grenzen. Das kann sich aber noch schlagartig ändern, etwa dann, wenn der Pegel des Brazos River bis zum Wochenende noch ansteigen sollte und womöglich weite Gebiete in der Nähe der Metropole überschwemmt werden.