Kreise werfen Lucha Wortbruch vor
Streit um Kosten für behinderte Menschen – Minister weist Kritik zurück
- Mehr Unabhängigkeit, mehr Entscheidungsfreiheit, mehr Geld für die Angehörigen: Das verspricht das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) rund 80 000 Menschen mit Behinderungen in BadenWürttemberg. Am heutigen Dienstag will Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) seinen Kollegen erklären, wie er die Regeln bis 2020 umsetzen will. Schon vorher aber protestieren die Landkreise. Sie fühlen sich im Stich gelassen und werfen der Landesregierung vor, ihr Wort zu brechen. Die widerspricht vehement.
Bereits 2016 hatte die Bundesregierung beschlossen, die Unterstützung für Behinderte grundlegend zu verändern. Unter anderem dürfen sie 50 000 Euro Privatvermögen behalten, bislang mussten sie alles über 25 000 Euro dem Staat überlassen – als Ausgleich für dessen Unterstützung. Außerdem wurde auch Vermögen von Ehepartnern einbezogen, das entfällt ab 2018.
Persönliches Budget
Darüber hinaus steigen die Zuschüsse für Betriebe, die Menschen mit Behinderungen einstellen. Damit sollen deren Chancen auf einen Job steigen. Die größte Änderung: Bisher erhält ein Betroffener in der Regel sein Geld für Lebensunterhalt und Hilfsmittel nicht ausgezahlt. Es fließt an die Einrichtung, in der er lebt oder den Vormund. Nur in Ausnahmefällen ist dies anders.
Ab spätestens 2020 bekommt jeder ein persönliches Budget. Dazu wird vorab ermittelt, welche Unterstützung der Mensch benötigt, um möglichst gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilzunehmen – also auch, um ins Kino zu gehen oder zur Arbeit zu gelangen.
Um das herauszufinden, entwickelt das Land bis 2020 eine Methode. Eine Arbeitsgruppe aus Experten des Ministeriums, der Renten- und Krankenkassen sowie aus Behindertenverbänden soll Kriterien aufstellen. Eine zweite Runde wird Musterverträge erarbeiten. Sie legen fest, mit welchem Zuschuss ein behinderter Mensch unter welchen Voraussetzungen rechnen kann. Ziel ist es, für alle gleiche Bedingungen zu schaffen. Außerdem will Sozialminister Lucha die Landkreise als Verantwortliche für die Organisation und Auszahlung der Leistungen benennen.
Deshalb fallen dort zusätzliche Kosten an. Es werden mehr Mitarbeiter nötig sein, um Behinderte persönlich zu beraten und die neuen Regeln umzusetzen. Außerdem gehen Fachleute davon aus, dass Eingliederungshilfen teurer werden. 2015 zahlte das Land dafür 1,74 Milliarden Euro.
Seriöse Zahlen dazu, wie sich die Ausgaben künftig entwickeln, gibt es nach Auskunft des Sozialministeriums nicht. Die Bundesregierung kalkuliert deutschlandweit mit Mehrkosten von 217 Millionen Euro, rund zehn Prozent würden nach Schätzung auf Baden-Württemberg entfallen – wenn das Land bereits nach den neuen Förderrichtlinien Geld auszahlen würde. Doch diese Summe halten Experten für viel zu niedrig.
Mehrkosten in Millionenhöhe
So sieht das auch der Landkreistag, die Interessenvertretung der 44 Kreise in Baden-Württemberg. Er beruft sich auf ein Gutachten des Kommunalverbands Jugend und Soziales. Das prognostiziert bis 2020 rund 150 Millionen Euro zusätzliche Kosten durch das BTHG. „Laut dem Entwurf des Staatshaushaltsplans beabsichtigt das Land, die Land- und Stadtkreise auf diesen Mehrbelastungen sitzen zu lassen“, sagt Alexander von Komorowski, Geschäftsführer des Kommunalverbandes. Dabei hätten Sozial- und Finanzministerium vorab zugesagt, anfallende Kosten zu übernehmen. „Wir fühlen uns massiv getäuscht“, so von Komorowski.
Beide Ministerien weisen die Vorwürfe zurück. „Wir haben grundsätzlich anerkannt, dass wir zur Kostenübernahme verpflichtet sind. Das werden wir auch einhalten. Ab 2020 sind dafür die rechtlichen Voraussetzungen der Bundesregelung erfüllt – denn dann geht es erst richtig los. Weil wir den Kommunen bis dahin bei ihrer Planung helfen wollen, unterstützen wir sie 2018 und 2019 auf freiwilliger Basis“, so ein Sprecher von Finanzministerin Edith Sitzmann (Grüne).
Das Land will erst 2020 in die neue Förderung einsteigen. Das ist möglich, der Bund hat eine Übergangsfrist eingeräumt. Der Grund: Sozialminister Lucha hält es für dringend notwendig, vorher die Grundlagen zu schaffen. Dazu gehört zum Beispiel, ein gerechtes und solides Instrument zu schaffen, um den individuellen Unterstützungsbedarf eines Menschen zu ermitteln. Das brauche eben Zeit. Deswegen fallen nach Einschätzung der Landesregierung erst ab 2020 deutlich höhere Kosten bei den Landkreisen an.
Die Zeit sei notwendig, um die benötigen zusätzlichen seriös Mittel zu kalkulieren, betont Luchas Sprecher. Die Vorstandvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Ursel Wolfgramm fordert einen verlässlichen Zeitplan. Darüber hinaus dürfe das zentrale Ziel des Gesetzes nicht der Geldnot zum Opfer fallen. „Unsere größte Befürchtung ist, dass der Paradigmenwechsel zu mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung aus fiskalischen Gründen nicht oder nicht ausreichend ernst genommen wird.“