Die Einsamkeit nimmt stetig zu
Für Hirnforscher Spitzer der „Killer Nummer 1“– Politik diskutiert gesellschaftliche Folgen
- Einsamkeit – jeder zweite Deutsche bezeichnet diesen Zustand laut ARD-Deutschlandtrend schon als Problem, 17 Prozent sogar als großes. „Einsamkeit ist schmerzhaft, ansteckend, tödlich“, warnt der Ulmer Gehirnforscher Manfred Spitzer. Und die schlimmste Nachricht ist: Sie nimmt zu.
„Die Digitalisierung bringt Menschen nämlich nicht, wie oft behauptet, zusammen, sondern bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit“, so Spitzer in seinem neuen Buch: „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit“(Droemer-Knaur, 19,99 Euro). Für ihn ist sie längst „Killer Nummer 1“. Doch nicht nur Spitzer schlägt Alarm.
London hat Einsamkeitsminister
Ein Einsamkeitsminister? In Berlin zogen viele die Augenbrauen hoch, als im Januar bekannt wurde, dass Großbritanniens Regierungschefin Theresa May Einsamkeit zur Regierungssache macht. Sie ernannte die Abgeordnete Tracey Croach zum Minister „for lonelyness“.
Ein britischer Untersuchungsbericht hat 2017 ergeben, dass Einsamkeit genauso gesundheitsschädlich ist wie das Rauchen von 15 Zigaretten täglich. Theresa May sieht die Zielgruppe vor allem bei Senioren, Pflegenden und Trauernden. Manfred Spitzer hält auch die Jugend für betroffen. Man trainiere Kindern eine „überbordende Selbstbezogenheit“an, ohne daran zu denken, dass auch eine noch so große Anzahl von Einsiedlern oder Narzisten keine funktionierende Gemeinschaft ergebe.
Immer mehr Singles
Fest steht: Immer mehr Menschen leben alleine, Familien brechen vermehrt auseinander. 17 Millionen Single-Haushalte gibt es schon in Deutschland. Und die Kontakte nehmen ab. Wer früher noch aus dem Haus ging, um Geld zu holen, eine Fahrkarte zu kaufen oder Kleider zu probieren, kann das heute alles in seinen eigenen vier Wänden erledigen – und anschließend über Einsamkeit klagen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat angeregt, dass es für das Thema eine verantwortliche Stelle – bevorzugt im Gesundheitsministerium – geben sollte, die den Kampf gegen die Einsamkeit koordiniert.
Auch im Koalitionsvertrag wird das Problem benannt: „Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältigen sozialen Kontakten fördern das individuelle Wohlergehen und verhindern Einsamkeit. Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.“
„Epidemie im Verborgenen“
Josef Rief, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Biberach und Mitglied des Familienausschusses, meint, dass die zunehmende Vereinsamung ein Thema ist, um das man sich kümmern muss. „Großfamilien lösen sich auf, der eine Sohn studiert in Hamburg, der andere in München, immer mehr Alte, Junge oder Kinderlose fühlen sich alleine“, so Rief. Auch die neuen Medien trügen dazu bei, dass man weniger miteinander rede. Doch man könne ja schlecht abschaffen, dass Menschen vor ihrem PC sitzen. Man könne aber sensibilisieren, ein Bewusstsein für die Nachteile schaffen. Einsamkeit sei eine „Epidemie im Verborgenen“. Auch in seine Bürgersprechstunde kämen manchmal Menschen, die einfach mal reden wollten.
Die baden-württembergische SPD-Abgeordnete und Landesparteichefin Leni Breymaier hat sich schon genau informiert, was in Großbritannien geschieht. Doch sie meint, dass in Deutschland das Ehrenamt, Vereine und Kirchen anders funktionieren. Sie kennt die Probleme, wenn bei Älteren plötzlich der Freundeskreis wegbricht, weil viele sterben, wenn die Kinder wegziehen und wenn ältere Menschen in viel zu großen Wohnungen übrig bleiben, weil sie hier wenigstens die Nachbarschaft noch kennen. Sie selbst betreut eine über 80-jährige Dame, und sie freut sich, dass es so viel Ehrenamt in Deutschland gibt, dass Menschen einmal in der Woche mit Älteren spazieren gehen.
Eine Einsamkeitsministerin, wie in Großbritannien, hält Breymaier nicht für nötig. Das Thema sei im Familienministerium gut angesiedelt. Aber sie findet es wichtig, dass man dort und im Familienausschuss im guten Dialog bleibe mit Kirchen, Kommunen und Vereinen. „Es ist richtig, dass wir wach bleiben.“
„Facebook-Depression“
Dass Einsamkeit nicht gesund ist und das Immunsystem schwächt und Stress auslösen kann, ist allgemein bekannt. Dass es sogar eine ansteckende Krankheit ist, sagt Manfred Spitzer. Er spricht schon von der „Facebook-Depression“. Soziale Onlinemedien verursachten Einsamkeit, Angst und Depression. Wer sie täglich mehr als zwei Stunden nutze, habe gegenüber jemanden mit einer halben Stunde Nutzung die doppelte Wahrscheinlichkeit, sich einsam zu fühlen.
Die Rezepte für die „Digital Natives“sind allerdings dieselben wie einst die für ihre Großmütter und Väter: Auch wenn aus Pfadfindern und Wandervögeln heute Baumbader und Outdoor-Adventure-Spezialisten geworden sind – Geselligkeit, Spiele, Unterhaltungen, Gemeinschaft und Aufenthalt in der Natur helfen am besten gegen Einsamkeit.