Der Mann für die Schmerzlinderung
Bert Sakmann spürt Schaltkreisen im Gehirn nach – und hat unter den Nobelpreisträgern etwas geschafft, was keinem vor ihm gelang
- Natürlich können einen wie Bert Sakmann ein paar Schüler nicht aus der Ruhe bringen. Der Mann hat schon so viele Vorträge vor so vielen Leuten mit wahlweise wenig oder auch viel Intellekt gehalten. Der Nobelpreisträger könnte wahrscheinlich auch vor einer offenen Schlangengrube dozieren, ohne dass sein Puls deshalb spürbar ansteigen würde. „So, grüß Gott miteinander“, sind seine ersten dürren Worte, als er das Podium im Lindauer Bodenseegymnasium besteigt.
Es ist ein schwülwarmer Mittwochnachmittag während des Nobelpreisträgertreffens, 14.30 Uhr. Die Schüler aus der Vierländerregion blicken erwartungsvoll zur Bühne. Das Privileg, den hochdekorierten Forscher hautnah zu erleben, wissen anfangs aber nicht alle zu schätzen. Einige hoffen stumm, dass der Vortrag bis zum Anpfiff um 16 Uhr vorbei sein möge, wenn die deutsche Nationalmannschaft bei der FußballWM auf Südkorea trifft.
Bert Sakmann lehnt es ab, ein Headset zu tragen oder ein Mikrofon zu benutzen, beginnt leise sprechend seinen Vortrag, sodass die jungen Leute im Publikum angestrengt die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen, den Kopf drehen, um überhaupt etwas von Sakmanns Worten wahrnehmen zu können. Und der alte Dozententrick funktioniert: Weil der Nobelpreisträger kaum zu hören ist, genießt er maximale Aufmerksamkeit. Das ist auch notwendig, weil der 76-Jährige auf Gebieten von solcher Komplexität, solch minimaler Kleinheit Erfolge gefeiert hat, dass ihre Darstellung und Vermittlung die Aufnahmefähigkeit maximal herausfordert. „Wo kommt er her, der Strom im Kopf, und was macht er?“, fragt der Wissenschaftler – und bekommt keine Antworten.
Bert Sakmann weiß sehr gut, wie es ist, Schüler in Lindau am Bodensee zu sein. Denn der 1942 in Stuttgart geborene Mann wuchs hier auf, verbrachte die Volksschuljahre am Bodensee. „Es war eine freie und glückliche Kindheit“, erzählt er später. Angeln, sich tagelang ohne jedwede Aufsicht Erwachsener herumtreiben. Helfen beim Mosten. Blödsinn machen – etwa mit Pferdeäpfeln um sich werfen. Mit den Schlittschuhen über den See kreuzen. „Was für ein freies Leben wir gehabt haben!“Spaß mit Freunden haben, auf dem Wasser, unter Wasser. „Mit meiner Schachener Gang“, also aus jenem Lindauer Ortsteil, in dem er aufwuchs. Also kein kleines Genie schon als Knirps? Kein Schlauberger schon von Kindesbeinen an? „Ach woher denn – keine Spur“, sagt Sakmann und lacht schallend. Dass er eines Tages Forscher werden würde, das sei ihm aber schon früh in den Sinn gekommen.
Schwere Kost
Im Vortragssaal erklärt der Nobelpreisträger mit Grafiken, Formeln und Diagrammen, wofür er 1991 seine Auszeichnung für Medizin erhalten hat. Es geht um Zellmembranen, um Ionenkanäle, durch die minimaler Strom fließen kann. Im Prinzip um die Grundfrage, wie diese Membranen funktionieren, wie durchlässig sie sind. Seine Entdeckung dient bis heute aber ganz praktischen Anwendungen, etwa wenn es um die Entwicklung und Wirkung von Medikamenten geht, die im Gehirn die von Sakmann nachdewiesenen Mechanismen beieinflussen, etwa um Schemrzen zu lindern.
Keine leichte Kost für einen warmen Nachmittag. Und so ruht der eine oder andere Schüler gelegentlich seine Augen für ein, zwei Minuten aus, bis ihn Sitznachbarn mit einem sanften Stoß des Ellenbogens zurück auf den naturwisschenschaftlichen Boden Bert Sakmann’scher Tatsachen holen. Mit zunehmender Dauer nimmt der Vortrag Fahrt auf, und spätestens, als der Hochgelehrte bei seinen Forschungen an Mäusen angekommen ist, um der Frage auf den Grund zu gehen, wo im Gehirn welcher Impuls wie eine Entscheidung auslöst, hat er auch die Aufmerksamkeit der zuvor etwas weggedrifteten Pennäler.
Bert Sakmann selbst hat sein Abitur nicht in Lindau, sondern in Stuttgart gemacht, im Jahr 1961. Danach zog es ihn nach Tübingen zum Medizinstudium. Und dann kam das Jahr 1963, das den Nobelpreisträger zu einem ganz Besonderen unter seiner Zunft macht, denn: Schon immer lebt die Lindauer Tagung davon, dass handverlesene Nachwuchswissenschaftler mit den Nobelpreisträgern zusammenkommen, um über Forschung zu diskutieren. 1963 war Sakmann einer dieser jungen, aufstrebenden Wissenschaftler. Hat
„Aber Gedanken? Ich widme mich keinen Dingen, die man nicht verstehen kann.“Bert Sakmann auf die Frage eines Schülers
er damals geahnt, einmal als Nobelpreisträger nach Lindau zurückzukehren? „Nein – absolut nicht. Wissen Sie, man wird Wissenschaftler, weil man neugierig ist. Eine bestimmte Sache interessiert einen. Das kann aber genauso gut in einen Irrweg führen.“Es gehöre schon sehr viel Glück dazu, zur richtigen Zeit das richtige Gebiet zu wählen.
Die sprichwörtlich aufgeweckten Schüler dürfen jetzt Fragen stellen – und sie nutzen die Möglichkeit eifrig. „Ist es nicht so, dass man mit Techniken, mit denen Sie zu tun haben, Gehirne manipulieren könnte? Sogar Gedanken beherrschen?“, fragt einer, der offenbar apokalyptische Szenarien hinter Sakmanns Forschungen wittert. „Aber nein – mit so etwas habe ich nichts zu tun“, dementiert Sakmann energisch. Einfache Prozesse wie aus dem Beispiel der Mäuse, zu springen oder es zu lassen, womöglich schon. „Aber Gedanken? Das interessiert mich nicht. Ich widme mich keinen Dingen, die man nicht verstehen kann.“Dazu gehörten so unergründliche Dinge wie Gefühle oder Gedanken. Eine junge Frau fragt: „Wie hat sich ihr Leben durch den Nobelpreis verändert?“ „Überhaupt nicht“, entgegnet Sakmann kurz und trocken, was ihm aber nicht alle seiner Zuhörer abnehmen. Auf die Frage, warum es so wenig weibliche Nobelpreisträgerinnen gibt, antwortet Sakmann – ganz Naturwisschenschaftler – mit der biologischen Erklärung, dass eben nur Frauen Kinder bekommen könnten. „Die, die keine Kinder wollen, haben aber alle Möglichkeiten.“
Mit der Frau nach München
Sakmann sagt solche Sätze aus seiner persönlichen Erfahrung heraus. Seine Frau war eine vielversprechende Augenheilkundlerin, die schließlich der Kinder wegen ihre Forscherkarriere aufgegeben hat, um eine Praxis zu eröffnen. „Das ist eben so“, sagt Sakmann später im Interview und zuckt mit den Schultern. Seine Frau sei aber auch der Grund, warum er nicht wieder nach Lindau zurückkehrte. „Ich wäre gerne hierher gezogen, aber mit meiner Frau hatte ich die Abmachung, dass wir nach der Emeritierung von uns beiden dort hinziehen, wo sie will.“Und weil sie Münchnerin ist, sei es eben München geworden. Ein Zugeständnis, weil die vielen Stationen zuvor – von London nach Göttingen, Heidelberg und Florida – im Rahmen seiner Karriere meist er bestimmt habe. „Aber immer mit ihr“, betont Sakmann.
Wenn er über die Schüler und Studenten heutiger Generation nachdenkt, wird ihm bewusst, wie frei und ungezwungen er aufwachsen und zu einem Forscher reifen konnte. Heute würden Kinder zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Fragten ständig wegen jeder Kleinigkeit um Erlaubnis. Ein alles umfassendes Sicherheitsbedürfnis stehe der Selbständigkeit entgegen, etwa das Klettern auf die höchsten Bäume, an deren Schwanken in den Wipfeln sich Sakmann noch erinnert. „Man merkt heute schon, dass wir verglichen mit den heutigen jungen Wissenschaftlern selbstbewusster waren“, sagt er. Weil sie vieles selbst hätten machen müssen und oft auf sich allein gestellt gewesen seien.
Welches Potential da im großen Schulsaal des Bodenseegymnasiums versammelt ist und irgendwann später zur Entfaltung kommen wird, kann auch ein Nobelpreisträger nicht abschätzen. Sein Vortrag ist zu Ende. Für viele wird die Begegnung mit dem Gelehrten eine eindrückliche Erinnerung bleiben. Für andere, die eilig aus dem Saal drängen, eher ein Hindernis, das Deutschlandspiel noch pünktlich mitzubekommen, von dem sie nicht wissen können, dass sie es besser gar nicht zu sehen kriegten. Bert Sakmann hat an Fußball kein gesteigertes Interesse. Als ob er geahnt hätte, dass es sich an diesem schwülwarmen Mittwochnachmittag, 16 Uhr, auch kein bisschen lohnen würde.