Warum sich in Japan jetzt die Hinrichtungen häufen
Nur knapp drei Wochen nach der Exekution von Sektenführer Shoko Asahara und einem halben Dutzend seiner Komplizen hat Japan sechs weitere Mitglieder der Sekte Aum Shinrikyo wegen ihrer Beteiligung an dem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 hingerichtet. 13 Menschen waren bei dem Anschlag getötet und mehr als 6000 Passagiere verletzt worden.
Noch nie zuvor in Japans jüngster Geschichte wurden innerhalb eines Monats 13 Menschen zum Galgen geführt. Die fernöstliche Wirtschaftsmacht gehört zu den wenigen Industriestaaten, die an der Todesstrafe festhält. In der Amtszeit von Premierminister Shinzo Abe seit Dezember 2012 gab es nach inoffiziellen Berechnungen 34 Exekutionen. Japans Regierung beruft sich darauf, dass die deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Todesstrafe für Kapitalverbrechen oder Terroranschläge für angemessen hält. Umfragen ergaben, dass bis zu 80 Prozent der Japaner es rechtens finden, Mörder per Gesetz aus dem Leben zu befördern, wenn ihr Urteil rechtskräftig ist. Mehr als 100 Kandidaten für den Strang warten noch auf den Henker. Auch rechtskräftig Verurteilte sitzen teilweise mehr als ein Jahrzehnt in den Todeszellen.
Die Delinquenten selbst erfahren erst kurz vor der Hinrichtung, dass ihre letzte Stunde geschlagen hat. Die Familien werden erst im Nachhinein informiert. Auch wegen der inhumanen Umstände ist die Höchststrafe in Japan umstritten. Bis 1993 galt vier Jahre lang wegen des internationalen Drucks auf Tokio ein Moratorium, das zwar die Todeszelle erlaubte, die Vollstreckung des Urteils aber aussetzte. Auch danach ließen einige Justizminister wegen ihres buddhistischen Glaubens keine Hinrichtungen mehr zu. Amtsinhaberin Yoko Kamikawa sieht die Rechtslage aber anders. Nach der Exekution von Asahara erklärte sie, die Todesstrafe sei „angesichts der abscheulichen Verbrechen unvermeidbar“gewesen.
Das Trauma einer Nation
Der pseudoreligiöse Führer und seine Jünger stehen für das Trauma einer Nation, die bis zum Anschlag am 20. März 1995 daran glaubte, in einem der sichersten Länder der Erde zu leben. Viele Japaner sehen in diesen und anderen Attentaten der militanten Sekte, die angeblich die Welt mit Gewalt „erlösen“wollte, den Beginn des organisierten Terrors gegen eine zivile Öffentlichkeit. Am Ende standen 191 Aum-Mitglieder vor Gericht. Das letzte Verfahren ging nach mehreren Berufungen erst im Januar 2018 zu Ende. Der Terrorbund soll rund 10 000 Anhänger in aller Welt gezählt haben, manche auch in Europa.
Es ist damit zu rechnen, dass mit den Aum-Mördern für längere Zeit die letzten Verurteilten zum Galgen geführt wurden, denn zwei Ereignisse in naher Zukunft deuten auf einen radikalen Schlussstrich hin. Im April 2019 wird Kaiser Akihito als erster Tenno seit Jahrhunderten freiwillig in den Ruhestand gehen. Im Juli 2020 veranstaltet Tokio die Olympischen Sommerspiele. Vor allem dieses Ereignis veranlasste die Japanische Föderation der Rechtsanwälte zu einem dringlichen Appell an die Regierung, Exekutionen abzuschaffen. Das erklärt die Eile bei der Vollstreckung. Japan will rechtzeitig Gras über seine rigorose Justizpolitik wachsen lassen, – ohne von seinen Grundprinzipien abzukommen.