Weißer Ring fordert mehr Hilfe für Opfer
Landeschef wirft Politik vor, sich nach Verbrechen zu sehr am Täter zu orientieren
- Nach der Massenvergewaltigung von Freiburg fordern Opferschützer mehr Unterstützung. „Die Politik orientiert sich meines Erachtens weiterhin zu sehr am Täter“, sagt Erwin Hetger, Vorsitzender des Weißen Rings. Vor allem nach einer Gewalttat bräuchten die Betroffenen so rasch wie möglich psychiatrische Hilfe. Doch es fehle an Anlaufstellen, die rund um die Uhr besetzt seien und Termine ohne Wartezeit vergäben. „Bisher gibt es in Baden-Württemberg kein flächendeckendes Netz von Traumaambulanzen. Da haben wir schon ein gewisses Defizit“, sagte Hetger der „Schwäbischen Zeitung“.
Derzeit gibt es im Land sechs solcher Einrichtungen. Mit Unterstützung des Landes bieten sie Verbrechensopfern kostenlose Beratungen und leiten eine erste Therapie ein. Nach Einschätzung von Wissenschaftlern ist eine solche Intervention nur erfolgreich, wenn sie kurz nach einem Verbrechen erfolgt. Sonst verfestigen sich die traumatischen Erinnerungen und lösen psychische Krankheiten aus. Solche Störungen zu behandeln, ist aufwendiger und teurer.
„In den vergangenen zehn Jahren hat sich viel getan. Die Belange der Opfer werden von der Politik wesentlich stärker berücksichtigt“, sagt Professorin Renate Schepker, Regionaldirektorin des Zentrums für Psychiatrie Bodensee-Oberschwaben, das eine der Traumaambulanzen betreibt. Doch auch sie sieht Verbesserungsbedarf. „Wir haben zwei Ambulanzen für Kinder in Baden-Württemberg, das ist viel zu wenig. Wir hoffen, dass der Bund den Weg freimacht, um das Netz auszubauen.“ Die Landesregierung habe bereits viel getan, sei aber auf Hilfe des Bundes angewiesen. Dieser will 2019 neue Vorgaben schaffen, die es den Bundesländern ermöglichen, noch mehr Ambulanzen einzurichten.
Das Landessozialministerium ist optimistisch. 2019 solle das entsprechende Bundesgesetz verabschiedet werden, dann sei ein flächendeckender Ausbau der Ambulanzen möglich. Außerdem gebe es zahlreiche weitere Anlaufstellen und Hilfen für Verbrechensopfer. 2017 zahlten Land und Bund rund 28 Millionen Euro an Opfer im Südwesten.
- Verbrechen wie die Massenvergewaltigung von Freiburg oder der Missbrauchsfall von Staufen, aber auch jeder der 8400 Einbrüche im Südwesten, hinterlassen Opfer. Welche Hilfsangebote gibt es, was unternimmt die Politik?
Was passiert, wenn jemand Opfer eines Verbrechens wird?
Die Polizei berät Opfer und erklärt, welche Ansprüche sie haben und wo es Hilfe gibt. Je nach Fall vermitteln die Beamten Betroffene direkt an Beratungsstellen und Hilfeeinrichtungen weiter. In Baden-Württemberg haben Polizei und die Opferhilfsorganisation Weißer Ring seit 2015 eine Kooperationsvereinbarung. Dadurch soll die Zusammenarbeit vor Ort verbessert werden – Polizisten kennen die Helfer in ihrer Region und umgekehrt, die Daten von Opfern werden mit deren Einwilligung direkt an den Weißen Ring weitergegeben. Der Bund fördert mehrere Internetportale, auf denen Opfer Anlaufstellen und Tipps bekommen.
Welche Rechte haben Opfer?
Natürlich können Opfer ihre Peiniger bei der Polizei anzeigen, damit dieser strafrechtlich verfolgt wird. Wer dafür Hilfe benötigt, findet in Beratungsstellen Hilfe – die bis hin zur psychologischen Begleitung während eines Prozesses geht. Auch Gerichte vermitteln diese kostenlose Begleitung. Opfer können in einem Strafprozess gegen ihre Angreifer als Nebenkläger auftreten. Der Verein „Nebenklage“vermittelt darauf spezialisierte Anwälte. Sie vertreten die Interessen der Betroffenen während der Ermittlungen und des Prozesses. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass bei bestimmten Aussagen vor Gericht die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird oder Kinder nicht ihrem Peiniger begegnen müssen.
Gibt es medizinische Hilfe?
In Baden-Württemberg arbeiten sechs Traumaambulanzen, die das Land finanziell unterstützt. Eine davon, die sich besonders an Kinder und Jugendliche sowie deren Angehörige richtet, ist am Zentrum für Psychiatrie Ravensburg. Betroffene können sich dort rund um die Uhr melden. Auch niedergelassene Psychotherapeuten oder andere Kliniken können Anlaufstellen sein, dort ist es aber oft schwieriger, Termine zu bekommen. Der Weiße Ring vermittelt ebenfalls Kontakte und Termine bei Psychologen und Therapeuten. Eine möglichst frühe Behandlung ist nach einer schlimmen Erfahrung sehr wichtig, um Erfolg zu haben. Das Gehirn bleibt nach einem Trauma im Alarmzustand – es signalisiert dem Körper weiterhin, dass er bedroht wird – obwohl die akute Gefahr vorbei ist. Das kann zu einer Überlastung führen, die eine Posttraumatische Belastungsstörung oder Depressionen auslöst. Wenn dies erst einmal ausgeprägt, ist Hilfe ungleich schwerer. „Nach unserer Erfahrung reichen bei unkomplizierten Verläufen fünf Sitzungen aus, um eine psychische Störung nach einem traumatischen Ereignis zu verhindern“, sagt Professorin Renate Schepker, Regionaldirektorin der ZfP Bodensee-Oberschwaben.
Was für finanzielle Ansprüche haben Betroffene?
Diese Ansprüche sind im Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) geregelt. Demnach steht jenen Menschen eine Entschädigung zu, die Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat geworden sind. Auch Angehörige können Leistungen erhalten. Wer bestohlen wurde oder durch eine Straftat andere Verluste erlitten hat, hat Anspruch darauf, dass der Täter den Schaden ersetzt. Anwälte helfen bei der Durchsetzung der Ansprüche. In Zivilprozessen können Verbrechensopfer weitere Leistungen erstreiten, wie etwa Schmerzensgeld. Doch viele Täter zahlen nicht oder nur in kleinen Raten. Hier kann die Landesstiftung Opferschutz einspringen. Sie zahlt bis zu 10 000 Euro pro Fall. 2017 schüttet die Stiftung knapp 386 000 Euro aus. Justizminister Guido Wolf (CDU) will das Budget verdoppeln und einen Opferbeauftragten einsetzen. Außerdem soll künftig eine zentrale Stelle Hilfsangebote sichten, bündeln und Betroffenen so einen besseren Überblick bieten.
Wer trägt die Kosten für Beratung und Behandlung?
Die Beratung der Opferhilfsorganisationen ist kostenlos. Dort erhalten Betroffene auch Schecks für Termine etwa bei Anwälten oder anderen Anlaufstellen, um auch dort eine erste kostenlose Beratung zu ermöglichen. Medizinische und psychologische Behandlungen zahlen zunächst die Krankenkassen, die sich aber das Geld bei den Versorgungsämtern wieder holen. Die Behörden zahlen Leistungen nach dem OEG aus. Das Land Baden-Württemberg übernahm 2017 Versorgungsleistungen in Höhe von rund 23,25 Millionen Euro, daran beteiligte sich der Bund mit sechs Millionen. 4,32 Millionen Euro flossen an Angehörige von Opfer, die nach einer Straftat ihre Familie nicht mehr versorgen konnten. Bei schweren Straftaten wie Mordversuche, sexuellen Übergriffen oder anderem ordnet der Staat den Opfern einen Anwalt bei. In diesen Fällen trägt die Staatskasse die Kosten. Bei weniger schweren Delikten ist das nicht der Fall, dann müssen die Opfer selbst zahlen. Wird ein Tatverdächtiger verurteilt, muss er die Kosten für die Anwälte der Nebenkläger übernehmen. Allerdings ist auch hier oft das Problem, dass die Täter nicht zahlen können und die Opfer auf den Anwaltsrechnungen sitzenbleiben.
Tipps und Kontakte: ww.odabs.org www.landesstiftung-opferschutz.de www.weisser-ring.de