Maas auf Mission im Irak
Irfan Ortac vom Zentralrat der Jesiden in Deutschland sieht die Minderheit im Nordirak noch immer benachteiligt
Dynamisch, die Laderampe seiner Transall im Laufschritt nehmend – so begann Außenminister Heiko Maas (Foto: imago) am Montag seinen Besuch im Irak. Dort betonte der SPD-Politiker, dass man im Kampf gegen ein Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staats nicht nachlassen dürfe. Iraks Regierung rief derweil nach Deutschland geflohene Bürger auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Sicherheitslage sei „exzellent“und „stabil“. Die vertriebenen Jesiden im Nordirak leiden jedoch weiterhin. Weshalb sie nicht in ihre Heimat zurückkönnen, erklärt Irfan Ortac, der Zentralratsvorsitzende der Jesiden in Deutschland, im Interview.
- Die Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats haben die Jesiden im Nordirak als Ungläubige verfolgt, versklavt und ermordet. Doch selbst nach der Vertreibung der Terroristen aus dem Siedlungsgebiet der Minderheit fühlen sich die Überlebenden von der irakischen Regierung im Stich gelassen, berichtet Irfan Ortac, Vorsitzender des Zentralsrats der Jesiden in Deutschland, im Gespräch mit Claudia Kling. Die Angehörigen seiner Volksgruppe hätten „das Gefühl, dass die muslimischen Bürger sie nicht wertschätzen“.
Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken an Hunderttausende Jesiden, die im Nordirak immer noch in Camps leben und nicht in ihre Heimat im Shingal-Gebiet zurückkehren können?
Ich war erst vor drei Wochen im Irak und habe Jesiden in den Camps in Kurdistan und im Shingal besucht. Das hat mich sehr betroffen gemacht, weil diese Menschen all ihre Hoffnungen auf uns gelegt haben. Sie setzen darauf, dass wir, die wir außerhalb des Iraks leben, für sie die Stimme ergreifen und ihnen helfen können. Es tut mir weh, wenn ich in die Augen dieser Menschen schaue, weil ich weiß, dass ich nicht all ihre Hoffnungen erfüllen kann.
Welche Hoffnungen werden konkret an Sie herangetragen?
Ganz konkret wünschen sich die Jesiden, dass sie eines Tages wieder in Würde in ihrer Heimat leben können und ihr Leben nicht in den Flüchtlingscamps enden wird. Sie hoffen auch, wieder in Sicherheit leben und sich künftig selbst verteidigen zu können. Und sie wollen, nach all den Gräueln, die ihnen angetan wurden, von der Weltgemeinschaft, vom Irak und von Kurdistan endlich als gleichwertige Bürger des Iraks anerkannt werden.
Fühlen sich die Jesiden denn wie Bürger zweiter Klasse im Irak?
Absolut. In allen Gesprächen, die ich dort führe, wird das geäußert – sowohl in Kurdistan als auch in den zentralirakischen Gebieten. Die Menschen fühlen sich benachteiligt in ihren politischen Rechten und in ihrer gesellschaftlichen Anerkennung. Sie haben das Gefühl, dass die muslimischen Bürger sie nicht wertschätzen. Bei der vergangenen Parlamentswahl im Irak wurden beispielsweise die Stimmen der Jesiden in den Camps nicht gezählt, weil sie angeblich ihre Stimmen in ihren Heimatdörfern hätten abgeben müssen. Bevor ein Gericht über ihre Klage entscheiden konnte, sind die Wahlzettel verbrannt.
Das Shingal-Gebiet ist seit drei Jahren vom sogenannten Islamischen Staat befreit. Warum können die Jesiden nicht dorthin zurückkehren?
Erstens verhindert es die kurdische Regierung indirekt, dass die geflohenen Jesiden in den Shingal zurückkehren, weil sie die Sachen, die sie in den Camps besitzen, nicht mitnehmen dürften. Zweitens hat der irakiWenn sche Staat nichts dafür getan, die Infrastruktur im Shingal wieder aufzubauen. Sehr viele Häuser sind zerstört worden, sehr viele Gebäude sind immer noch komplett vermint. Und es fehlen Wasser und Strom, aber auch Ärzte und Lehrer. In allen anderen Regionen mussten die Beamten nach dem Krieg gegen den IS zurückkehren, wenn sie weiterhin ihr Gehalt bekommen wollten. Für das Shingal-Gebiet gilt diese Regelung nicht. Deshalb sind die Schulen und Krankenhäuser leer.
Dennoch sind einige Tausend Jesiden in ihre Heimat zurückgekehrt. Was heißt das für deren Alltag?
beispielsweise jemand krank wird, muss er stundenlange Wege und Umwege in Kauf nehmen, bis er medizinisch versorgt wird. Der direkte Weg vom Shingal-Gebiet nach Kurdistan endet an einem Checkpoint. Deshalb dauert die Fahrt über Mossul und andere einstige ISHochburgen mindestens fünf Stunden, bis die Menschen in einer Klinik oder einem Notfallzentrum behandelt werden können.
Und wie bewerten Sie die allgemeine Sicherheitslage im Shingal?
Staatliche Strukturen, wie wir sie kennen, gibt es dort nicht. Die Sicherheit der Menschen liegt in den Händen von schiitischen Milizen wie al-Haschd asch-Schabi und anderen Gruppierungen, denen die Jesiden nicht vertrauen. Hinzu kommt, dass die Türkei in der Region neuerdings punktuell Luftangriffe fliegt und mit weiteren Angriffen droht. Auch deshalb haben die Jesiden Angst, dass Krieg und Vertreibung sie jederzeit aufs Neue ereilen könnte, wenn sie sich dort wieder niederlassen würden.
Viele Jesiden beklagen, dass ihre Häuser nun von einstigen IS-Sympathisanten bewohnt würden. Können Sie das bestätigen?
Ehemalige IS-Sympathisanten sind tatsächlich nach wie vor in der Region sesshaft. Viele von ihnen haben nur ihren Namen und ihre Kleidung gewechselt und gehören jetzt einer anderen Miliz an. Das trägt natürlich nicht dazu bei, die Verbrechen, die passiert sind, politisch aufzuarbeiten. Auch einen Versöhnungsprozess kann es so nicht geben. Ganz im Gegenteil: Die Jesiden, die größte Opfergruppe, erleben nun erneut, dass sie wirtschaftlich und politisch benachteiligt werden. Vom Ausland werden Milliarden für den Wiederaufbau gegeben, aber im ShingalGebiet sehe ich keine Fortschritte.
Auch Deutschland unterstützt den Wiederaufbau des Iraks mit Hunderten Millionen Euro. Kommt davon etwas bei den Jesiden an?
Vom Bundesbeauftragten für religiöse Minderheiten wurde mir vor circa vier Wochen schriftlich mitgeteilt, dass die Bundesregierung aktuell 62 Millionen Euro im ShingalGebiet investiert habe. Ich war dann ja vor Ort und musste leider feststellen, dass ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte, was mit dem Geld passiert sein soll. Ich will nicht bestreiten, dass die Bundesregierung diese Summe bereitgestellt hat, aber in der Shingal-Region ist davon wenig angekommen.
Haben Sie bei der Bundesregierung nachgefragt, wie dieser Widerspruch zu klären ist?
Ich habe einen entsprechenden Bericht verfasst und an verschiedene Stellen in Berlin geschickt. Daraufhin wurde ich für Mitte Januar ins Außenministerium eingeladen, um die Situation zu besprechen. Bislang kann ich den Widerspruch nicht erklären.
Gilt das für den gesamten Nordirak, dass der Wiederaufbau so schleppend vorangeht?
Nein. In den sunnitischen Gebieten ist das ganz anders. Auch dort mussten Menschen vor dem IS fliehen, aber die Regierung in Bagdad hat ihnen nach dem Ende der Kämpfe Soforthilfe versprochen und auch geleistet, damit sie in ihre Dörfer und Häuser zurückkehren konnten. Der Wiederaufbau von Mossul beispielsweise ist richtig im Gang. Auch in den Städten drumherum wird fleißig investiert und viel gemacht. Diese Unterstützung fehlt im Shingal-Gebiet.
Vom IS sind Tausende Jesiden verschleppt, versklavt oder getötet worden. Wissen Sie, wie viele von ihnen derzeit noch als verschollen gelten?
Mir wurde gesagt, dass noch 2600 Menschen verschollen sind – wie viele von ihnen noch leben, weiß man nicht. Von ehemaligen Gefangenen haben wir erfahren, dass auch viele Frauen von den Dschihadisten getötet wurden. Derzeit sollen sich noch circa 1000 Frauen in der Hand des IS befinden. Und, auch das sollten wir nicht vergessen: Mehr als 1800 jesidische Kinder wurden durch die Terrormiliz zu Waisen.
Warum ist es so schwierig, diese Frauen nach dem Sieg über den IS zu finden? Sein Rückzugsgebiet hat sich doch sehr verkleinert.
Das ist genau die Frage, die ich den Politikern im Irak auch gestellt habe. Wir versuchen über ein Netzwerk, mit verschleppten Frauen und Kindern in Kontakt zu kommen. Daher wissen wir, dass sich viele nach wie vor bei IS-Leuten im Irak und in Syrien befinden. Ich schließe daraus, dass der IS noch lange nicht besiegt ist. Die haben zwar ihre Checkpoints abgebaut und sind aus der Öffentlichkeit verschwunden, aber von einem Sieg kann doch nicht die Rede sein, solange die Dschihadisten dort unbehelligt leben. Als der IS die jesidischen Dörfer überfallen hat, wurden auch Hunderte Babys und Kleinkinder verschleppt. Wir bekommen immer wieder Hinweise, dass diese Kinder jetzt in muslimischen Familien leben. Das ist Raub – und es wäre die Aufgabe des irakischen Staates, diesen Verbrechen nachzugehen.