Die Nacht der Erwartungen
Der Heilige Abend steckt voller Geheimnisse – Kinder im Kindergarten Sankt Martin freuen sich aufs Christkind
- An der Schwelle zwischen Advent und Weihnachten sind die Erwartungen hoch: Was wird das Fest wohl bringen? „Da kommt das Christkind“, ruft Marlene vom katholischen Kindergarten Sankt Martin, „das schleicht sich heimlich rein mit Geschenken.“Bei den Kindern steigt die Spannung. Und bei den Erwachsenen?
Für die Maxis des Kindergartens in der Braune Hardt ist die Sache klar. „Wir warten aufs Weihnachtsfest“, wissen Shehryar und Ledijona, und aus Marlene sprudelt es heraus: „Dann bin ich ganz aufgeregt.“Die Fünf- und Sechsjährigen wissen genau: Dann kommt das Christkind, „das ist nämlich Jesus“, sagt Hannah, und er wolle in unsere Herzen. Maxim hat einmal gehört, wie es die Geschenke hingelegt hat, und Louis hat schon einmal versucht Wache zu halten, als das Christkind kommen sollte, und „immer auf den Balkon geguckt. Aber irgendwann bin ich eingeschlafen.“Geheimnisvoll ist der Geschenkebringer und in Nikitas Vorstellung leuchtend wie ein Stern. Marlene sagt: „Jesus ist in einer Krippe in einem dreckigen Stall zur Welt gekommen, und obwohl es eine so arme Geburt war, feiert man sie trotzdem, weil es eine so besondere Geburt war und Jesus das Leben hell und alle Menschen fröhlich gemacht hat.“Und deshalb, darauf vertrauen auch Amilia und Lia, Leni und Lilly, Sophia, Joas und Noel, wird auch ihr Weihnachten voller Lichter und Geschenke sein.
Es war nicht immer so
Was die Kinder nicht wissen: So ist es nicht immer gewesen. Der Aalener Eugen Hafner beschwört in seinen Weihnachtserinnerungen eine Zeit herauf, in der die Stubenbeleuchtung noch spärlich war, draußen eine Nacht herrschte, „die Furcht aufkommen ließ vor Teufel, Hexen und bösen Geistern“, und wo die Heilige Nacht sehr viel unmittelbarer „Licht in eine dunkle Welt“brachte. Immer wieder ließ sich die Literatur inspirieren von dieser besonderen Nacht voller Magie, in der die sichtbare Welt verschmilzt mit der unsichtbaren, in der Wunder geschehen. Das ist so in der Geschichte von Luzia, dem Sternenkind, von der die Maxis im Kindergarten hören. „Nur die Kinder können sie sehen, aber nicht die Erwachsenen“, erklärt Marlene, „und sie sagt den Kindern, was sie Gutes tun können.“Das ist so bei Charles Dickens, der in der Nacht vor Weihnachten seinen Scrooge den Geistern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begegnen lässt. Selma Lagerlöf wiederum erzählt von dem Mann, der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu leihen, und dem nichts Böses etwas anhaben konnte. Es ist eine von Mirjam Schusters Lieblingsgeschichten, sie heißt „Die Heilige Nacht“.
Den „nächtlichen Unfug“unterbinden
Die Ellwanger Theologin und evangelische Pfarrerin erklärt, dass der 24. Dezember über Jahrhunderte eine Zeit des Wartens und der Erwartung war. Die Christen begannen die Feierlichkeiten zu Weihnachten erst mit einer Mitternachtsmesse vom 24. auf den 25. Dezember. Dazu passt die liturgische Regel, dass alle großen Feste eine Vigil besitzen müssen, eine Art Nachtwache, in der man sich betend und wachend auf das bevorstehende Fest vorbereitet. Erst in der Reformationszeit verlegte man die Christvesper auf den frühen Abend. Der Grund laut dem Standardwerk „Religion in Geschichte und Gegenwart“, das Mirjam Schuster gewälzt hat, verleitet heute zum Schmunzeln: Die Kirchenoberen wollten damit „nächtlichen Unfug“und „unordentliche Sitten“unterbinden. Die spätmittelalterlichen Menschen hatten wohl die einmalige Chance, einmal im Dunkeln das Haus verlassen zu können, um zur Kirche zu gehen, nicht nur im weihnachtlichen Sinn genutzt. So rückte die Feierstunde in den Abend vor und ab dem 19. Jahrhundert auch ins Haus, wo seither „die Familie unter sich und sich selbst feiert“. Heute ist Weihnachten nicht zuletzt ein Fest der Sehnsucht nach Geborgenheit und Harmonie, nach Heimat und glücklicher Kindheit. Muss sie nicht enttäuscht werden?
„Klar können überhöhte Erwartungen zu Enttäuschungen führen“, bestätigt Mirjam Schuster. „Aber schlimmer wäre es, keine Erwartungen zu haben.“Man müsse nur gucken, worauf man seine Hoffnungen richte. Nicht darauf, dass an Weihnachten alles perfekt klappen müsse, nicht darauf, „ich muss es schaffen“, sagt die Pfarrerin. Wer sich dagegen „öffnet für die Möglichkeit, es kann etwas Gutes geschehen auch über die eigene Kraft hinaus, wer bereit ist sich beschenken zu lassen, der wird nicht enttäuscht“.
Die Kinder haben dieses Vertrauen. „Ich lass mich überraschen, was das Christkind mir bringt“, sagt Nikita. Amilia hat auf ihrem Wunschzettel eine Gitarre, auf der sie spielen lernen möchte, Leni eine Nähmaschine und Noel eine Rakete von Playmobil. Daran, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen, glauben die Fünf- und Sechsjährigen fest. Für die Erwachsenen ist das – einmal abgesehen von materiellen Dingen – nicht so einfach. Es hängt wohl davon ab, wofür sie sich öffnen. „Was ist dies für eine Nacht?“, lässt Selma Lagerlöf in ihrer Geschichte von der Heiligen Nacht einen Hirten fragen. Die Antwort: „Ich kann es dir nicht sagen, wenn du es selbst nicht siehst.“