Das Lied für die ganze Welt
Vor 200 Jahren wurde „Stille Nacht, heilige Nacht“zum ersten Mal gesungen – von armen Schiffersleuten in einer Kirche nahe Salzburg
Wenn es ein Lied gibt, das auf der ganzen Welt bekannt ist, dann heißt es „Stille Nacht, heilige Nacht“. An Heiligabend vor 200 Jahren wurde es zum ersten Mal gesungen, in der St.-Nikola-Kirche in Oberndorf nahe Salzburg. Seitdem erklingt das Wiegen- und Weihnachtslied rund um den Globus, und die Welt hält für einige Minuten den Atem an, wenn die schlichte Melodie im 6/8-Takt anhebt. Die Hektik der vergangenen Wochen fällt von den Menschen ab, sie vergessen ihre Sorgen, ihre Herzen werden seltsam berührt. Das war Weihnachten 1818 in Oberndorf nicht anders als es Weihnachten 2018 in Wangen, Weingarten, Wuppertal, Washington und Wellington sein wird. Jeder glaubt, das bekannteste aller Weihnachtslieder, seine Schöpfer und seine Geschichte zu kennen. Tatsächlich?
Gewusst, dass „Stille Nacht, heilige Nacht“in einer Zeit bitterster Not entstanden ist?
Die ersten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts waren geprägt von Krieg und Hunger. Napoleon hatte gewütet und Europa ausgeblutet, der Wiener Kongress ordnete Althergebrachtes neu – rücksichtslos. Hinzu kam eine Naturkatastrophe riesigen Ausmaßes: In Indonesien brach im April 1815 der Vulkan Tambora aus. 1816 erreichten die Klimaveränderungen Europa, es gab ein Jahr ohne Sommer mit extremer Kälte, Überschwemmungen und Ernteausfällen. Auch in Oberndorf an der Salzach waren die Auswirkungen der Politik und des Vulkanausbruchs zu spüren. Das Fürsterzbistum Salzburg erlebte einige Herrscherwechsel in kürzester Zeit. Die Nachbarorte Oberndorf und Laufen wurden infolgedessen getrennt – einer wurde bayrisch, einer österreichisch. Der Riss ging teilweise sogar durch Familien. Die Salzach, auf der die Oberndorfer Schiffer Waren transportierten, wurde zum Grenzfluss, die Bürger fühlten sich entmachtet, entwurzelt und hilflos. Der Niedergang der Salzachschifffahrt begann. In dieser Zeit, nämlich 1816, schrieb Joseph Mohr den Text „Stille Nacht, heilige Nacht“, zunächst als Gedicht. Er wollte den Menschen damit wieder Halt und ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln und dem Wunsch nach einer friedlichen Welt Ausdruck verleihen. „Für mich hat ,Stille Nacht’ nichts mit Religion zu tun. Es ist in erster Linie ein Friedenslied“, sagt dann auch Clemens Konrad, Geschäftsführer des Tourismusverbands Oberndorf.
Zu der Zeile „holder Knabe im lockigen Haar“soll Mohr übrigens durch ein Altarbild in Mariapfarr im Lungau inspiriert worden sein. Dort war Mohr 1816 als Priester tätig.
Gewusst, dass Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber nur zwei Jahre lang zusammen wirkten?
Mohr und Gruber werden in einem Atemzug als Schöpfer des „StilleNacht“-Lieds genannt. Doch nur von 1817 bis 1819 wirkten die beiden Männer zusammen in Oberndorf – Mohr als Hilfspfarrer und Gruber, der eigentlich Lehrer im nahen Arnsdorf war, als Organist. Die beiden Männer freundeten sich schnell an. Zu Weihnachten 1818 bat Mohr Gruber, die passende Melodie für sein 1816 verfasstes Gedicht zu schreiben, was diesem auch in wenigen Stunden gelang. „Stille Nacht, heilige Nacht“erklang erstmals in der St.-Nikola-Kirche zu Oberndorf, nach der Christmette gesungen von den beiden Freunden und von Mohr auf der Gitarre begleitet. Ungewöhnlich, denn die Gitarre galt damals als reines Wirtshausinstrument. Mohr allerdings war ein leutseliger Wirtshausgänger, was den Griff zum Saiteninstrument nahelegt. Der Mär, die Oberndorfer Orgel sei nicht funktionsfähig gewesen, weil eine Maus den Blasebalg angenagt hätte, widerspricht die Salzburger Stadtführerin Carola Schmidt. „Wahrscheinlich war es so, dass die kleine Orgel nur nicht den gesamten Kirchenraum ausfüllen konnte.“
Gewusst, dass Mohrs Taufpate Henker war und Gruber aus der Not heraus auch Mesner?
Die Lebenswege der Freunde verliefen sehr unterschiedlich. Joseph Mohr wurde am 11. Dezember 1792 als uneheliches Kind einer Salzburger Strickerin und eines fahnenflüchtigen Soldaten geboren. Sein Taufpate war der Salzburger Henker. „Nichts Ungewöhnliches damals“, bemerkt Schmidt am Taufbecken im Salzburger Dom. Ein Domvikar wurde auf den aufgeweckten Schüler Mohr aufmerksam, förderte den Bub und sorgte für seine hervorragende Ausbildung. Bis zu seiner Priesterweihe 1815 studierte Mohr Theologie an der Universität in Salzburg. Es folgten zahlreiche Stationen als Geistlicher im Salzburger Land. Seine Gemeindemitglieder brachten dem jungen Pfarrer viel Sympathie entgegen, die Obrigkeit war mit ihm und seinem Lebensstil allerdings nicht immer einverstanden. „Sein Wesen ist jugendlich, unbesonnen und hingebend – purschenmäßig geht er mit der langen Tabakpfeife, den Beutel an der Seite, über die Gassen“ist in einem Beschwerdebrief zu lesen. Kein Wunder, dass Mohr oft die Stelle wechseln musste. Am 4. Dezember 1848 starb er in Wagrain.
Franz Xaver Gruber war fünf Jahre älter als Mohr und Sohn einer Leinweberfamilie. In Arnsdorf trat Gruber seine erste Lehrerstelle an. Um sich zum kargen Gehalt etwas dazuzuverdienen, arbeitete der musikalisch begabte Gruber auch als Mesner und Organist. Schon damals begann er zu komponieren. Trotz seines pädagogischen Talents fühlte er sich immer mehr als Musiker denn als Lehrer und nahm deshalb die Stelle eines Chorregenten und Organisten an der Stadtpfarrkirche Hallein an, wo er 1863 starb. Die Freundschaft zwischen Mohr und Gruber dauerte ein Leben lang. „Gruber war vermutlich überhaupt der einzig wahre Freund, den Mohr hatte“, mutmaßt Tourismus-chef Konrad.
Gewusst, dass „Stille Nacht, heilige Nacht“in über 300 Sprachen übersetzt wurde und weltweit einen Bekanntheitsgrad zwischen 80 und 100 Prozent erreicht?
Von Kiruna bis Kapstadt, von Hawaii bis Hanoi: „Stille Nacht, heilige Nacht“gilt auf der ganzen Welt als das Weihnachtslied schlechthin, unabhängig von Religion und Kultur. Es wird angeblich von zwei Milliarden Menschen gesungen, gehört seit 2011 zum immateriellen Unesco-Kulturerbe und ist Österreichs erfolgreichster Exportartikel. Wobei viele nichts von der österreichischen Herkunft des Liedes hören wollen. „In Polen zum Beispiel sind die meisten Menschen fest davon überzeugt, dass ,Stille Nacht’ ein urpolnisches Weihnachtslied ist“, erzählt Konrad und liefert gleich die Erklärung mit: „Selten wurden die Zeilen wortgetreu übersetzt. Meistens wurde in der eigenen Sprache eine eigene Geschichte zu der Melodie verfasst.“Fakt aber ist, dass die damals international bekannte Tiroler Sängerfamilie Rainer 1822 das Lied dem russischen Zaren Alexander I. und dem österreichischen Kaiser Franz I. vorgesungen hat. Danach galt „Stille Nacht“lange Zeit als Tiroler Volkslied. 1873 wurde die Melodie unter dem Namen „Choral of Salzburg“in den USA bekannt. Christliche Missionare brachten das Lied schließlich bis nach Ostafrika, nach Neuseeland und Südamerika. Besondere Bedeutung erlangte es während des Ersten Weltkriegs. Deutsche, Briten, Franzosen und Belgier sangen es gemeinsam während des spontanen „Weihnachtsfriedens“am Heiligen Abend 1914 an der Front in Flandern. Anschließend spielten sie zusammen Fußball. 1941 stimmte US-Präsident Franklin D. Roosevelt das Lied gemeinsam mit seinem Verbündeten, dem britischen Premierminister Winston Churchill, auf der Terrasse des Weißen Hauses an. Bing Crosby machte „Silent Night“schließlich zum Pop-Ohrwurm.
Bis heute wird das Lied in Österreich fast ausschließlich am Heiligen Abend gesungen, zum Beispiel zu Hause vor der Bescherung oder wie anno dazumal nach der Christmette in der Kirche. „Wir gehen sehr sorgsam mit dem Lied um“, berichtet Konrad. „Stille Nacht, heilige Nacht“als wochenlange Dauerberieselung im Kaufhaus ist für ihn unerträglich und kommt in Österreich so gut wie gar nicht vor. Er selbst hat es sich in Oberndorf zur Aufgabe gemacht, die zahlreichen Touristen, die dort das Stille-Nacht-Museum und die StilleNacht-Gedenkkapelle besuchen, über die Geschichte des Liedes aufzuklären, gleichzeitig das Lied aber auch vor Kommerzialisierung und Verkitschung zu schützen. So verweigerte er zum Beispiel jüngst Amazon eine Drehgenehmigung in der Gedenkkapelle. Der Onlinehändler wollte dort einen Spot produzieren, in dem für seinen Sprachassistenten Alexa geworben wird.
Gewusst, wie das 200-jährige Jubiläum gefeiert wird?
Natürlich feiert ganz Österreich das Weihnachtslied. Zeitungsverlage haben dicke Sondermagazine auf den Markt gebracht, Bücher sind erschienen, im Fernsehen laufen entsprechende Spielfilme und Dokumentationen, auch die Landesausstellung in Salzburg und acht anderen Orten widmet sich noch bis zum 3. Februar dem berühmten Weihnachtslied. In der Mozartstadt selbst gibt es selbstverständlich „Stille-Nacht“-Führungen, sogar ein Musical wurde inszeniert und in der Adventszeit im Festspielhaus aufgeführt. „Das hat mit der Geschichte um das Lied allerdings überhaupt nichts zu tun“, stellt Stadtführerin Carola Schmidt fest. Die Entstehung des Liedes sehr wohl zum Inhalt hatte dagegen heuer das alljährliche Adventssingen im Salzburger Festspielhaus.
Auch Oberndorf ist längst fürs Jubiläum gerüstet. Das ganze Jahr über schon strömen die Touristen. An Heiligabend selbst werden vermutlich mehr als die üblichen 4000 bis 5000 Menschen aus Oberndorf und der ganzen Welt der Gedenkandacht in der kleinen Kapelle lauschen, die in den 1930er-Jahren mit Spendengeldern auf dem Schutthaufen der ehemaligen St.-Nikola-Kirche gebaut wurde. St. Nikola selbst wurde nach einem Hochwasser 1899 abgerissen. In, vor und auf den Hügeln rund um die kleine Gedenkkapelle werden die Menschen anschließend zusammen, aber jeder in seiner Sprache alle sechs Strophen von „Stille Nacht, heilige Nacht“singen, denn ...
Gewusst, dass „Stille Nacht, heilige Nacht“aus sechs Strophen besteht, meist aber nur die erste, zweite und sechste gesungen werden?
Stille Nacht! Heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht Nur das traute hochheilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar, Schlaf in himmlischer Ruh! Schlaf in himmlischer Ruh! Stille Nacht! Heilige Nacht! Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund, Da uns schlägt die rettende Stund‘. Christ, in deiner Geburt! Christ, in deiner Geburt! Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht, Aus des Himmels goldenen Höh‘n Uns der Gnaden Fülle lässt seh‘n Jesus, in Menschengestalt, Jesus, in Menschengestalt. Stille Nacht! Heilige Nacht! Wo sich heute alle Macht Väterlicher Liebe ergoss Und als Bruder huldvoll umschloss. Jesus, die Völker der Welt, Jesus, die Völker der Welt. Stille Nacht! Heilige Nacht! Lange schon uns bedacht, Als der Herr vom Grimme befreit, In der Väter urgrauer Zeit Aller Welt Schonung verhieß, Aller Welt Schonung verhieß. Stille Nacht! Heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht Durch der Engel Halleluja, Tönt es laut von ferne und nah: Christus, der Retter, ist da! Christus, der Retter ist da!