Die Königsstadt der Handwerker
Die Medina von Fes ist nicht nur Basar, sondern auch Spiegel traditioneller marokkanischer Lebensart
Augen auf, Nase besser immer mal wieder zu – und durch. Rechts baumeln abgetrennte Kamel- und Hammelköpfe, links stapeln sich durchsichtige, mit Lammfett gefüllte Plastikdosen. In riesigen Körben kriechen Tausende von kleinen Schnecken, auf den Ständen türmen sich exotische Gewürze in allen Farben. Aus Granatäpfeln, Feigen und Datteln haben die Händler kunstvolle Pyramiden gebaut. Es riecht nach süßen Backwaren, Seifen und Kebab, aber auch nach Fischabfällen und Kanalisation. Deutschlands einstiger Mannschaftskapitän, Mittelfeldspieler und Fußballstar würde sich hier sehr geehrt fühlen. „Balak! Balak!“schallt es alle paar Minuten durch die engen, dunklen Gassen. Das heißt zwar „Achtung“, bedeutet aber viel mehr „Platz da!“für die flinken Burschen, die auf großen, schwer beladenen Handkarren allerlei Waren durch den Markt und die drangvolle Enge bugsieren. Zwischendrin suchen alte Marokkaner – gekleidet in einer typischen Djellaba – und ihre Lastesel den Weg durch das verwirrende Gassenlabyrinth.
Aus dem neunten Jahrhundert
Die Medina von Fes zählt zu den faszinierendsten weltweit und gilt als die größte Nordafrikas. 1980 hat die Unesco diese marokkanische Altstadt unter Weltkulturerbeschutz gestellt. Ihre 9400 Gassen erstrecken sich über eine Fläche, die etwa 400 Fußballfeldern entspricht. Ein Tag reicht also bei Weitem nicht aus, diese Medina aus dem neunten Jahrhundert zu entdecken, in der noch wie im Mittelalter gelebt und gearbeitet wird, in der Moscheen, Medersen (Koranschulen) und Mausoleen stehen, Gärten und zauberhafte Innenhöfe zur Rast einladen, Riads (historische Stadtvillen) und Karawansereien heute Hotelzimmer und traditionelles Essen anbieten. Ja, sogar die angeblich älteste Universität der Welt hat einst hier ihren Platz gefunden, Theologie wird an diesem Ort noch immer gelehrt.
Reise in die Vergangenheit
Fes ist die älteste der vier marokkanischen Königsstädte (Marrakesch, Meknes, Rabat). Es wurde 808 an der Stelle gegründet, an der sich die zwei Kamelrouten vom Mittelmeer und vom Atlantik kreuzten, und war schon damals Ziel für Juden aus Andalusien, Flüchtlinge aus Cordoba, Handwerksfamilien und Kaufleute, die aus Kairouan in Tunesien vertrieben worden waren. Fes entwickelte sich schnell zur Handelsstadt und öffnete den unterschiedlichen Kulturen und Religionen der Welt ihre prächtigen Stadttore. Mag man Hassan, dem Reiseleiter, Glauben schenken, ist die Stadt heute noch geprägt von Toleranz und gegenseitiger Achtung. Nachprüfen lässt sich das für Touristen nur schwerlich. Doch für eine andere Aussage Hassans findet der Urlauber auf Schritt und Tritt die Bestätigung: „Ein Bummel durch Fes ist wie eine Reise zurück in die Vergangenheit. Handwerk statt Industrie, Lasttiere statt Autos, Beschaulichkeit statt Hektik.“Viel verändert hat sich seit dem Mittelalter vermutlich nicht, vor allem in den Handwerkervierteln der Medina, wo 30 000 Menschen ihren Beruf nach überlieferten Traditionen ausüben.
Schon von Weitem sind die Kupferkesselmacher zu hören. Ihre rhythmischen Hammerschläge übertönen jedes andere Geräusch auf dem kleinen Platz, auf dem sich Werkstatt an Werkstatt reiht. Nur wenige Meter weiter eine ganz andere Szenerie: Über der schmalen Gasse der Färber hängen bunte Tücher zum Trocknen, in den Rinnen im Boden fließt das Abwasser aus den Färbereien. Vorsicht! Schicke Sandaletten oder gar weiße Turnschuhe sind hier absolut fehl am Platz. Ist es bei den Färbern eher dunkel und muffig, verlangen die Augen in der Straße der Schreiner, die traditionelle Hochzeitsmöbel bauen, fast schon nach einer Sonnenbrille. Geblendet wird der Betrachter angesichts der mit jeder Menge glitzerndem Tand verzierten Holzthrone, auf denen später einmal Brautpaare Platz nehmen werden.
Die Zeit stehen geblieben ist wohl auch in den Gassen der Goldschmiede, Messerschleifer, Schneider und Schuhmacher. Mohammed ist Kammmacher und arbeitet schon seit 1950 in einer Art Mauerloch im Basar. Zwischen seinen Zehen hält der 88-Jährige das Stück Horn, aus dem er kleine Kämme fertigt.
Nichts für empfindliche Nasen
Schon seit 200 Jahren lehrt der Vater den Sohn die Kunst des Messingziselierens in der Familie des 26-jährigen Hamsa. Mitten in der Medina hat die Familie ein schönes, großes Lampengeschäft, in dem es wunderbar filigrane Leuchten in allen Größen zu kaufen gibt. Der Laden läuft so gut, dass die ganze Familie (und das sind nicht wenige) davon bestens leben kann. Wertvolle Handwerksarbeit findet der Medinabesucher aber nicht nur in den Werkstätten, sondern auch an Türen, Balkonen und Fassaden der alten Häuser, in den Innenhöfen der Medersen und Karawansereien und natürlich in den zahlreichen Moscheen, die Andersgläubige in Marokko allerdings nicht betreten dürfen. Doch allein der schewue Blick durch den Eingang vermittelt einen Eindruck von den kunstvollen bunten Kacheln, mit denen die Moscheen Marokkos geschmückt sind.
Berühmt ist Fes vor allem für seine Lederwaren. Allzu empfindliche Nasen sollten aber ein in starkes Parfum getränktes Taschentuch bei sich haben, bevor sie das Gerberviertel Chouwara betreten. Der Gestank ist beinahe unerträglich, und das Sträußchen aus Pfefferminzzweigen, das am Eingang gereicht wird, mindert ihn nur unwesentlich. Es kostet Überwindung, sich längere Zeit auf der Dachterrasse des Lederwarengeschäfts aufzuhalten und einen Blick hinab zu werfen auf die unzähligen, riesigen Steinbottiche, in denen Lamm-, Ziegen-, Kuh- und Kamelleder seit dem 12. Jahrhundert auf die gleiche Art und Weise gegerbt und gefärbt werden. Mit nackten Füßen walken die Arbeiter die Häute und Felle in einer Lauge aus Kalk, Salz, Tierurin und Taubenmist so lange, bis sie weich sind und sich Haar- und Fleischreste gut ablösen lassen. Gerber und Färber, die hier einen Knochenjob verrichten, riechen den Gestank schon lange nicht mehr, genauso wie die Anwohner in den umliegenden Häusern. Spätestens hier wird jedem klar, dass in Fes die Tradition keine künstliche Kulisse ist, um Touristen anzulocken, sondern zum Alltag der Millionenstadt gehört und dem harten Broterwerb dient.
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