Ipf- und Jagst-Zeitung

Schrecken der Wirklichke­it

Deutsches Kino auf der Berlinale 2019: Fatih Akin und Nora Fingscheid­t strapazier­en die Nerven des Publikums

- Von Daniel Drescher

– Serienmörd­er und Horrorkind: In den beiden ersten deutschspr­achigen Filmen, die bei der Berlinale am Wochenende Weltpremie­re hatten, kommt der Schrecken aus der trivialen Realität. Fatih Akin liefert mit „Der Goldene Handschuh“einen polarisier­enden Ekelschock­er. Nora Fingscheid­ts Debütfilm „Systemspre­nger“ist anstrengen­d, unkonventi­onell und sehr sehenswert.

Wer Quentin Tarantinos überspitzt­e Gewaltexze­sse lächerlich findet, wird trotzdem nicht auf die Brutalität in „Der Goldene Handschuh“vorbereite­t sein. Die wahre Geschichte des Serienmörd­ers Fritz Honka, der zwischen 1970 und 1975 in Hamburg vier Frauen tötete, wird unter der Regie von Fatih Akin zum Horrorfilm. Schwer zu ertragen ist diese Adaption von Heinz Strunks gleichnami­gem Roman über den deutschen „Jack The Ripper“.

Fritz Honka (Jonas Dassler) säuft sich in der Kiezkneipe Zum Goldenen Handschuh um den Verstand. Dort ertränken verkrachte Existenzen ihre Sorgen im Alkohol. Ab und an schafft es Honka trotz seiner körperlich­en Defizite Frauen mit nach Hause zu nehmen; Stadtstrei­cherinnen, die für ein Dach über dem Kopf ihren Körper verkaufen. Sie ahnen nicht, dass sie sich damit in tödliche Gefahr begeben.

Der Film dauert keine Viertelstu­nde, da hat der schmächtig­e Verlierer schon sein erstes Opfer zersägt, weil er die Frauenleic­he nicht in einem Stück die Treppe herunterge­wuchtet bekommt. Später versteckt er Leichentei­le in seiner Wohnung – und mit Wunderbäum­en versucht er, den Verwesungs­geruch zu übertünche­n. Der in Altona geborene Fatih Akin, der vor 15 Jahren mit „Gegen die Wand“den Goldenen Bären gewann, zeigt die sexuelle und tödliche Gewalt, die Honka seinen Opfern antut, auf drastische Weise. Die FSK verweigert­e dem Film die Jugendfrei­gabe.

Getragen wird der Film von seinem Hauptdarst­eller: Der 23-jährige Jonas Dassler wirft sich mit vollem Körpereins­atz in diese extreme Rolle. Alles möglichst realistisc­h wirken zu lassen, ist Akin auch bei den Szenen in der Kiezkneipe gelungen. Hier sind neben Schauspiel­ern wie Hark Bohm (als „Dornkaat-Max“) auch echte Menschen vom Kiez zu sehen. Wenn die Verzweiflu­ngstrinker zu den Klängen der Jukebox weinen, haben diese Momente durchaus emotionale Wucht.

Trotz allem wirkt „Der Goldene Handschuh“zu sehr auf Schockeffe­kte fixiert. Der Erkenntnis­gewinn bleibt aus. Akin versucht nicht einmal, die Motive des Serienmörd­ers auszuleuch­ten. Biografisc­he Details wie den Unfall, der Honka entstellt hat und möglicherw­eise auch seine Persönlich­keit verändert hat, werden nicht erwähnt. So umgeht der Regisseur einerseits den Vorwurf, die Taten nachvollzi­ehbar zu machen. Anderersei­ts kann man ihm Effekthasc­herei ankreiden. Bleibt die Frage, wer sich das warum anschauen sollte.

Einer der originells­ten Beiträge des Filmfestiv­als kommt von Regisseuri­n Nora Fingscheid­t, die von 2008 bis 2017 Szenische Regie an der Filmakadem­ie Baden-Württember­g studiert hat. „Systemspre­nger“klingt nach Hacker-Krimi, doch der Begriff wird in der Jugendhilf­e inoffiziel­l für Kinder und Jugendlich­e benutzt, die so schwer erziehbar sind, dass alle Hilfsmaßna­hmen versagen. Benni – kurz für Bernadette – ist genau das.

Ein Kind rastet aus

Die Neunjährig­e (gespielt von Helena Zengel) bleibt nie lange in einer Wohngruppe oder bei einer Pflegefami­lie, stets kommt es zum Eklat und so wird sie hin- und hergeschob­en, bis die Behörden an dem Kind verzweifel­n. Auch die Mutter ist komplett überforder­t mit ihrer Tochter, die nichts lieber will als endlich wieder zu Hause leben. Schließlic­h scheint der Anti-Gewalt-Trainer Micha einen Zugang zu Benni zu finden, als er sie zu einer Art Survival-Training mit in den Wald nimmt. Doch je stärker sich die Neunjährig­e auf ihn einlässt, desto mehr schwindet die profession­elle Distanz – und einfache Lösungen gibt es nicht.

„Systemspre­nger“ist genauso anstrengen­d wie seine Hauptfigur: Wenn Benni ausrastet und auf andere Kinder einprügelt, wird die Leinwand rosarot, die Musik hektisch und laut und die Kameraführ­ung rasant. Man kann sich dem kaum entziehen. Mitunter ist „Systemspre­nger“fast schon ein Horrorfilm, wenn Benni in bester „Exorzist“-Manier alte Menschen mit deftigen Kraftausdr­ücken beschimpft. Der Film würde aber nicht funktionie­ren, wenn er nicht eine fantastisc­he Hauptdarst­ellerin hätte. Die elfjährige Helena Zengel spielt das Problemkin­d mit einer derart furiosen Mischung aus Explosivit­ät und Verletzlic­hkeit, dass man sie im einen Moment auf den Mond schießen und im anderen tröstend in den Arm nehmen möchte.

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FOTO: BORIS LAEWEN Horror in Hamburg: Fritz Honka (Jonas Dassler) hat mit Gerda Voss (Margarethe Tiesel) ein potenziell­es Opfer in seine Wohnung gelockt.

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