„Der Einsatz der Türkei ist völkerrechtswidrig“
Experte Stefan Talmon erklärt die Militäroperation in Nordsyrien und die Rolle Deutschlands
RAVENSBURG - Die türkische Militäroperation „Friedensquelle“in Nordsyrien wird scharf kritisiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Erdogan in einem Telefonat dazu auf, die Angriffe umgehend zu beenden. Anderenfalls drohe der erstarkende Einfluss der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Ob die Türkei mit ihrem Angriff in Nordsyrien sogar das Völkerrecht verletzt, darüber hält sich die Bundesregierung mit ihrer Einschätzung bislang jedoch bedeckt. Aus gutem Grund, sagt Völkerrechtler Stefan Talmon von der Universität Bonn: Denn Deutschland verletze selbst jeden Tag das Völkerrecht in Nordsyrien. Simon Siman hat mit dem Professor über den Einsatz der Türkei gesprochen.
Herr Talmon, ist der Militäreinsatz der Türkei in Nordsyrien eine Verletzung des Völkerrechts?
Das ist ganz klar so. Der Einsatz der Türkei ist völkerrechtswidrig. Im Völkerrecht gibt es nur zwei Ausnahmen für die Anwendung von Gewalt: einmal, wenn die Autorisierung des UN-Sicherheitsrats vorliegt, oder wenn man in Selbstverteidigung handelt. Beides liegt hier aber meines Erachtens nach nicht vor.
Nun beruft sich die Türkei allerdings auf Selbstverteidigung. Sie sieht die kurdische YPGMiliz in Nordsyrien als Teil der Terrororganisation PKK und damit als Gefahr für die nationale Sicherheit in der Türkei.
Diese Argumentation ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Denn dafür müsste eine Selbstverteidigungslage gegen einen gegenwärtigen Angriff vorliegen, den es allerdings vor der Militäroperation nicht gab. Die Beschüsse aus dem nordsyrischen Gebiet auf die Türkei und kleinere Grenzzwischenfälle, die von der Türkei angeführt werden, reichen hierfür nicht aus. Das Völkerrecht setzt da für Selbstverteidigung eine gewisse Intensität voraus, die hier nicht gegeben ist.
Deutschland und Frankreich haben auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats den IS im Irak und Syrien bekämpft. Wird hier mit zweierlei Maß gemessen?
Da muss unterschieden werden. Im Irak war die Bundeswehr mit Zustimmung der irakischen Regierung, und hat insofern das kollektive Selbstverteidigungsrecht Iraks mit ausgeübt, um den Irak gegen den Angriff des IS zu verteidigen. 2015, nach den Terroranschlägen in Paris, war das anders. Danach hatte sich Frankreich ebenfalls auf das Verteidigungsrecht berufen und auch Deutschland hatte mit kollektivem Selbstverteidigungsrecht zugunsten Frankreichs argumentiert. Diese Argumentation war ebenfalls vom Völkerrecht nicht gedeckt. Auch die Terroranschläge in Paris hatten die Intensitätsschwelle des völkerrechtlichen Angriffs nicht überschritten.
Also sind die Einsätze der Bundeswehrflugzeuge über Syrien ebenfalls völkerrechtswidrig?
Ja, das ist meines Erachtens der Grund, warum die Bundesregierung jetzt der Türkei keine Völkerrechtsverletzungen vorwirft. Solche Vorwürfe haben bisher nur die Schweiz oder Liechtenstein vorgebracht. Deutschland sitzt quasi selbst im Glashaus und begeht jeden Tag Völkerrechtsverletzungen in Syrien. Jeden Tag fliegen Bundeswehrflugzeuge ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats oder der syrischen Regierung in Syrien ein und betanken amerikanische und andere Flugzeuge, die dort die Überreste des IS bekämpfen. Alles vor dem Hintergrund der Selbstverteidigung – nach dem letzten großen Anschlag des IS in Europa, 2015 in Paris. Da wurde ein negativer Präzedenzfall geschaffen. Der holt uns jetzt ein.
Gibt es dennoch eine rechtliche Möglichkeit oder Pflicht der internationalen Staatengemeinschaft auf die türkische Militäroffensive zu reagieren?
Grundsätzlich regelt das Völkerrecht bilaterale Rechtsverhältnisse. Die Militäraktion der Türkei ist also in erster Linie als Angriff der Türkei auf Syrien zu werten. Der verletzte Staat ist Syrien und Deutschland hat als Drittstaat erst einmal keine völkerrechtliche Handhabe gegen die Türkei vorzugehen. Die Bundesregierung kann sich politisch äußern und die Türkei zur Einhaltung des Völkerrechts anhalten, also diese auffordern den Angriff auf Syrien zu beenden, was sie auch tut, aber Sanktionen wegen des Völkerrechtsverstoßes gegen die Türkei verhängen kann sie nicht. Wenn Staaten mit dem Verhalten anderer Staaten nicht einverstanden sind, können sie sogenannte unfreundliche Maßnahmen ergreifen, selbst das Völkerrecht gegenüber dem anderen Staat verletzen dürfen sie dagegen nicht. Die Bundesregierung kann also alles tun, wozu sie der Türkei gegenüber nicht rechtlich verpflichtet ist, wie etwa künftige Rüstungsexporte verbieten.
Syrien hat demnach das Recht auf Verteidigung gegen die Türkei und auch bereits Regierungssoldaten an die türkische Grenze verlegt. Steht Deutschland jetzt als NatoBündnispartner der Türkei gegenüber in der Pflicht, wenn es zu Gefechten zwischen türkischen und syrischen Soldaten kommt?
Das denke ich nicht, denn der Bündnisfall der Nato kann nur dann eintreten, wenn ein Staat angegriffen wird. Die Türkei wurde nicht von Syrien angegriffen und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die syrische Armee die Grenze zur Türkei überschreitet und die Türkei angreift. Die Nato ist ein Defensivbündnis und der Bündnisfall trat bisher nur einmal in Kraft: nach den Angriffen auf die USA am 11. September 2001.
Haben die Kurden ein Recht auf Verteidigung?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Dann müsste man schauen, ob die Kurden als partielles Völkerrechtssubjekt anzusehen sind, die eine lokale De-Facto-Regierung in Nordsyrien darstellen. Dann würden sie durch das Gewaltverbot geschützt werden. Indirekt werden sie aber bereits durch das Gewaltverbot geschützt, auf das sich Syrien berufen kann. Einen direkten Rechtsanspruch auf Verteidigung haben sie sicherlich nicht. Auch wenn sie das natürlich nicht davon abhält, sich zu verteidigen.