Britische Wirtschaft zwischen Hoffen und Bangen
Finanzbranche begrüßt klaren Wahlausgang – Zeit für Freihandelsgespräche sehr knapp
- Groß ist die Freude in Londons City, dem Finanzzentrum der Metropole, gewesen, nachdem die Konservativen unter Premierminister Boris Johnson die Wahl vergangene Woche so deutlich gewonnen hatten: Pfund- und Aktienkurse schossen umgehend in die Höhe, auch zu Wochenbeginn verzeichnete der Index FTSE-100 einen Rekordzuwachs. Am Dienstag dann die Ernüchterung: Weil die Regierung beim EU-Austritt aufs Tempo drückt und damit ein Chaos-Brexit („No Deal“) wahrscheinlicher wird, gingen die Kurse stark zurück. Wenn die Übergangsperiode tatsächlich unwiderruflich Ende 2020 zu Ende gehe, glaubt Andy Scott vom Finanzberater JCRA, „bleibt sehr wenig Zeit für eine umfassendes Handelsabkommen mit der EU“.
Regierungskreise bekräftigten am Rande der Kabinettssitzung am Dienstag eine Änderung des Austrittsgesetzes, über das bereits am Freitag im Unterhaus diskutiert werden soll. Demnach verlässt Großbritannien den Brüsseler Club definitiv am 31. Januar, darüber hinaus wird das Ende der sogenannten Übergangsperiode, in der die Insel alle Pflichten eines Mitglieds erfüllt, auf den 31. Dezember 2020 festgelegt. Das Königreich müsste also die Verhandlungen über die zukünftige wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit dem größten Binnenmarkt der Welt binnen elf Monaten abschließen – ein Ding der Unmöglichkeit, wie Handelsexperten übereinstimmend betonen.
Diese Klausel im konservativen Wahlprogramm hatte schon vor dem Urnengang am vergangenen Donnerstag für Stirnrunzeln gesorgt, war in der City aber überlagert worden von der Zuversicht, Johnsons Regierung werde wirtschaftsfreundlicher agieren als der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn. Profiteure des klaren Tory-Sieges waren denn auch jene Branchen, denen Labour mit Teilverstaatlichungen oder strengerer Aufsicht gedroht hatte. Die Aktie des Telekomgiganten BT stieg um sieben Prozent, der Energieversorger Centrica um 8,7 Prozent. Auch Banken und Immobilienfirmen vermeldeten starke Zuwächse.
Das Pfund verzeichnete vergangene Woche gegenüber dem Euro den höchsten Anstieg seit drei Jahren, fiel jedoch am Dienstag um mehr als ein Prozent zurück.
Die Gewinne an der Börse dürften von längerer Dauer sein, glauben die Experten des Börsenmaklers Panmure Gordon (PG). Seit dem Brexit seien britische Aktien um rund 20 Prozent unterbewertet, argumentiert PG-Chefökonom Simon French und stellt für die kommenden Wochen sogar einen Mini-Boom in Aussicht.
Denn Bauherren und Firmenmanager haben in den vergangenen Jahren immer wieder Investitionsentscheidungen aufgeschoben, die 2020 fällig werden. Optimistische Vorhersagen sagen deshalb ein Wachstum von bis zu drei Prozent voraus, im laufenden Kalenderjahr lag es bisher bei 1,2 Prozent. Weil im Quartal bis Oktober die Wirtschaft stagnierte, gibt es auch deutlich defensivere Prognosen. So spricht PwC-Chefökonom John Hawksworth von einer „allmählichen Erholung“
und einem Wachstum von lediglich einem Prozent.
Gute Nachrichten hielt am Dienstag der Arbeitsmarkt bereit. Die Arbeitslosenrate fiel auf 3,8 Prozent und damit den tiefsten Stand seit 45 Jahren, so viele Briten sind ökonomisch aktiv (76,2 Prozent) wie noch nie. In der Statistik verborgen sind freilich viele Billigjobs („zero hours“). Der zuletzt deutliche Anstieg der Reallöhne hat sich verlangsamt, die Inflation notiert bei 1,5 Prozent und damit unter dem Ziel der Zentralbank, die einen Inflation von zwei Prozent anstrebt.
Deren Monetärausschuss kommt am Donnerstag zur Überprüfung des derzeitigen Leitzinssatzes von 0,75 Prozent zusammen, was in der City aber weniger Interesse erweckt als die Nachfolge von Gouverneur Mark Carney. Der gebürtige Kanadier hat nach bisheriger Planung ausgerechnet am Brexit-Tag 31. Januar seinen letzten Arbeitstag. Zwar erwiesen sich die ökonomischen Vorhersagen des gelernten Goldman-Sachs-Bankers seit seinem Amtsantritt 2013 immer wieder als zweifelhaft, doch gab Carney der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt in schwierigen Zeiten Stabilität, nicht zuletzt durch massive Käufe von Staatsanleihen im Wert von 515 Milliarden Euro.
Um die Nachfolge rangeln zwei seiner vier Stellvertreter, Benjamin Broadbent und Jonathan Cunliffe, sowie der Leiter der Finanzaufsicht FCA, Andrew Bailey. Zu den prominenten Kandidatinnen zählen die gelernte Investmentbankerin und ExStaatssekretärin Shriti Vadera, derzeit Chairman von Santander UK, und die Direktorin der London School of Economics und frühere Vize-Gouverneurin, Minouche Shafik.