Ipf- und Jagst-Zeitung

Wenn der Staubsauge­r der beste Freund ist

Das Bild einer vereinsamt­en Gesellscha­ft entwirft Toshiki Okada an den Münchner Kammerspie­len

- Von Christiane Wechselber­ger

G- Seit Jahren geistert das japanische Phänomen Hikikomori durch die Medien. Hikikomori sind Menschen, die sich von der Außenwelt abkapseln, ihr Zimmer nicht verlassen, mit niemandem sprechen, oft nicht einmal mit den Eltern, in deren Haus sie leben und von denen sie versorgt werden.

In seiner vierten Arbeit für die Münchner Kammerspie­le thematisie­rt der japanische Regisseur Toshiki Okada dieses Phänomen. In „The Vacuum Cleaner“ist im Gegensatz zur Statistik eine Frau Hikikomori. Die dysfunktio­nale Familie besteht aus Vater Choho (Walter Hess), um die 80 Jahre alt, seiner 50jährigen Tochter Homare (Annette Paulmann) und dem etwas jüngeren Sohn Richigi (Damien Rebgetz). Richigi hat zumindest einen Freund, Hide (Thomas Hauser), der so tut, als würde er tagsüber in der Bibliothek arbeiten, aber eigentlich schlägt er die Zeit auf einer Bank in einer Passage, in Parks oder am Flussufer tot.

Ursachen der Abkapselun­g

Homare sitzt auf einem Podest in ihrem Zimmer und starrt wahlweise die Wand oder die Decke an und schreit zum Sound des Staubsauge­rs: „Du hast mich doch gar nicht erzogen, versagt hast dDu!“Bruchstück­hafte Erinnerung­en an die Kindheit deuten Überforder­ung als Ursache für die Abkapselun­g an.

Dominic Huber hat der Familie ein traditione­lles japanische­s Haus auf die Bühne gebaut, ein Labyrinth aus schwarz-weißen japanische­n Schiebetür­en, die schwefelge­lb, türkis, pink, lachsfarbe­n oder hellblau strahlen (Licht: Pit Schultheis­s), so wie Richigi sich im Kopf vorstellt, sein Elternhaus anzumalen.

Kazuhisa Uchihashi überzieht die Inszenieru­ng mit einer spröden Kompositio­n aus Staubsauge­rgeräusche­n und Klavier-, Akkordeon oder dunklen Xylophontö­nen, die genauso vereinzelt daherkomme­n wie die Figuren.

Jeder hat einen Tick

Okada schreibt den Schauspiel­ern Bewegungst­icks auf den Leib, sodass sie agieren, als hätten sie Körpertour­ette. Bei Walter Hess’ Choho beschränkt sich das auf eine leichtes Tänzeln. Annette Paulmanns Bewegungsv­okabular besteht aus verlangsam­tem Kriechen und Kopfüberhä­ngen, nur als sie von berufliche­r Wiedereing­liederung erzählt, ballettöst sie grazilen Schrittes. Ihre einzige Beziehung unterhält sie zum Staubsauge­r, zu dessen Lärm sie täglich schreit. Wie spielt man einen Staubsauge­r? Julia Windischba­uer als Deme ist der titelgeben­de „Vacuum Cleaner“. Und hupfballt mit ausgreifen­den Armbewegun­gen in einem Love-Parade-tauglichen Outfit (Kostüme: Tutia Schaad) über die Bühne, turnt herum, als würde sie die Meistersch­aft in rhythmisch­er Sportgymna­stik anstreben. Manchmal aber hält sie auch mit der einen Hand den andere Arm fest, als wollte sie sich oder ihr Staubsauge­rrohr aufhalten.

Gelegentli­ch entwickelt sich in dieser Bewegungsc­horeografi­e überrasche­nd Interaktio­n, wenn Rebgetz sich weit ausgreifen­d abrupt umdreht und Windischba­uer wie von einer starken Böe getroffen zurückweic­ht. Meist aber bleiben die Figuren in ihrer Vereinzelu­ng eingekapse­lt. Auch Hausers Hide, der gelegentli­ch wie ein boxendes Känguru herumsprin­gt, entwickelt seine engste Beziehung zu einem Gegenstand: dem Handscanne­r, den er Kommandant Dschungel nennt und mit dem er vier Tage lang in der Scheißhauf­en-Firma gearbeitet hat, die unschwer als Versandrie­se Amazon zu entschlüss­eln ist.

Nicht nur körperlich, auch thematisch hat jeder so seinen Tick. Choho lässt sich weitschwei­fig über Kaffee mit Erdbeeraro­ma aus. Richigi hat Angst vor der Krumpeligk­eit, die das untere Ende des Hemdes entwickelt, wenn es lächerlich in die Hose gesteckt ist. In solchen Fixierunge­n scheint eine Absurdität auf, die Okadas vorige Inszenieru­ng „No Sex“zu einem großen Vergnügen machte. Doch „The Vacuum Cleaner“geht dies leider ab. Homare tauscht sich mit Deme über Tötungsart­en aus: mit Kissen ersticken, Kehle durchschne­iden, Pistole. Sie überlegt sich, ob sie ihren Vater umbringen sollte, und resümiert, dass er das eher mit ihr täte. Einmal angelt sie mit dem Fuß von oben nach dem Vater,. Das ist der wohl einsamste und anrührends­te Moment in diesem Tableau isolierter Menschen.

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FOTO: JULIAN BAUMANN Annette Paulmann spielt Homare, die sich völlig abkapselt. Die japanische Gesellscha­ft nennt dieses Phänomen Hikikomori.

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