Und die Harfe spielt dazu
Ganz hinten im Tiroler Pitztal wird der Bergadvent mit Bratäpfeln, alten Geschichten und Stadlmusik gefeiert
Dieses hohe Tal in Tirol ist nichts für Leute, die nie Zeit haben. Die in der Freizeit nur schnell Party machen wollen, Sport, shoppen und dann zurück ins Büro. Es ist auch nichts für Kontrollfreaks, die eine wegen starken Schneefalls gesperrte Straße schon für eine Katastrophe halten. Das Pitztal ist ein Traum für Leute, die im Winter ihren Frieden suchen – und Abstand zum üblichen Gewimmel. Ganz hinten, nah am Gletscher, in einem Dorf namens Plangeross wird noch ein echter Bergadvent gefeiert. Im Stadl klingt die Harfe. Und auch sonst geht alles mit der Ruhe.
Keine Angst, Skifahrer! Der moderne Wintersport ist im Pitztal angekommen. Schon in den frühen 1980er-Jahren bohrten sich die Einheimischen mithilfe eines Innsbrucker Investors durch den Fels über Mittelberg und bauten eine geräumige Standseilbahn, die schnurstracks in nicht mal sieben Minuten hinauf führt bis auf 2841 Meter. In der lichten Weite des Gletschers hat man die Wahl zwischen fünferlei Liftanlagen und 14 breiten Pisten – aktuell steht der Bau einer Verbindung hinüber ins deutlich größere Skigebiet des Ötztals in der Diskussion.
Doch auch Skimuffel können das atemberaubende Panorama genießen und einen kleinen Anstieg durch den knirschenden Schnee hinauf zur Kapelle des Weißen Lichts machen. Der Tiroler Bildhauer Rudi Wach schuf die Andachtsstätte aus 90 Tonnen hellen Granits. Das Portal aus Titan steht offen, die Sonne lässt ein paar farbige Glasfenster aufleuchten, und dem Wanderer wird es ganz fromm ums Herz, das in der dünnen Höhenluft immer etwas schneller schlägt.
Kutschfahrt mit Haflinger
Doch wir sind noch gar nicht ganz oben. Mit den Gondeln der Wildspitzbahn geht es zum „Café 3.440“, das seit 2012 wie ein Ufo auf dem fast dreieinhalbtausend Meter hohen Hinteren Brunnenkogel thront. Hier können Gipfelromantiker bei einem Cappuccino die Bergspitzen zählen (1300 sollen es sein) und sie können sogar standesamtlich heiraten, aber ein Disco-Remmidemmi wie auf dem gleich hohen Schweizer Jungfraujoch wird‘s hier nicht geben. Dafür sorgt schon der amtierende Wirt Sepp Eiter, ein väterlicher Charmeur, der 30 Jahre lang ein Hotel drunten im Tal geführt hat – bis zur Pensionierung: „Dann hat der liebe Gott mich da hoch geholt“, erzählt er, und dass er sich jeden Tag auf die Bergfahrt freut.
Den Bruder vom Gletscher-Sepp werden wir gleich auch noch kennenlernen. Das ist nämlich der markante Fredl, der uns nach der Bergfahrt im Weiler Tieflehn („Den hat der Opa vor 140 Jahren gekauft.“) auf seinem Pferdehof erwartet. Zwei muntere Haflinger ziehen eine Kutsche, die abseits der Straße mit herabgelassenen Kufen zum Schlitten wird. Vier Kilometer Schneeweg hat der Fredl selbst mit dem Bulldog befestigt, heidewitzka geht es mit den lachenden Gästen durchs Tal, in der Pause wird Glühwein ausgeschenkt, und das ist viel schöner als die „Driving Experience“auf dem nahe liegenden Wintertrainingsplatz von BMW.
Der Fredl hätte lieber ein Langlaufzentrum im Pitztal gesehen. Aber die Autofritzen zahlen unwiderstehliche Mietsätze für das schneesichere Gelände. Und die Tiroler können sich ein gutes Geschäft nicht entgehen lassen. Denn besonders hier im hinteren Tal, wo die Dörfer auf einer Strecke von 23 Kilometern zur Gemeinde St. Leonhard gehören, gibt es nun mal begrenzte wirtschaftliche Möglichkeiten. Vor der Entwicklung des modernen Tourismus war der sieben Monate lange Winter ein Fluch. Die Menschen lebten in Verhältnissen, die man heute als erbärmlich bezeichnen würde. Sie waren Selbstversorger mit wenigen Tieren, die Familien wurden oft nicht satt und schickten ihre Söhne und Töchter zum Arbeiten in reichere Regionen. Aus Tirol kamen bis ins frühe 20. Jahrhundert viele der sogenannten Schwabenkinder.
Erst seit den späten 1950er-Jahren ist das hintere Pitztal mit Strom versorgt, und es wurde eine feste Straße gebaut, die hinaus Richtung Innsbruck führt, zum Handel, zur medizinischen Versorgung, zur Welt. Heute gibt es WLAN in der kleinsten Pension, doch immer noch einen großen Respekt vor der Natur, dem Schnee, den drohenden Lawinen. Und vergessen haben die Hochland-Tiroler die alten Geschichten nicht.
Kleine Welt
Immer wieder werden sie auch in Plangeross erzählt, dem Dorf, das sich alljährlich zur Weihnachtszeit in einen gefühlten Adventskalender verwandelt. Jeden Abend bis zur Christmette öffnet ein anderes Haus ein Fenster in Form einer hölzernen Hütte. Im Fackelschein gibt‘s Glühwein, Kinderpunsch und Musik, mal spuken die Krampusse mit ihren Hörnern, Schellen und handgeschnitzten Masken, mal blasen die Kaiserjäger am Waldesrand ins Alphorn. Und alle kommen, obwohl es schneit. Auch den Sepp und den Fredl sehen wir wieder, sie verteilen Lebkuchen und begrüßen uns herzlich. Das Pitztal ist eine kleine Welt.
Beide Brüder sind aktiv im Krippenverein, Pferdemann Fredl malt mit markanten Pinselstrichen die Tiroler Hintergrund-Landschaften für die heiligen Kulissen, die von seinen Freunden mit Liebe und kleinen Hölzern zusammengebaut werden. Multitasking ist normal für die Tiroler. „Hier macht jeder, was er kann“, grinst Fredl. Sonntags nach der Adventsmesse hockt man zusammen auf Heuballen in Peters Stadl am Dorfbrunnen. Der Adolf plaudert aus der Vergangenheit des Pitztals, wo es sogar einmal Flachsanbau, Webereien und eine beachtliche Tuchproduktion gegeben hat, bevor die Zeiten sich mal wieder geändert haben. Dann singen die Kinder von Kerzenschein und Dankbarsein, oder der Valentin spielt auf dem Hackbrett, und die Plangerosser Frauen spendieren selbstgebackene Butterbrote.
Die Dekoration im Dorf ist dezent: Tannenzweige und stille Sternenlichter. Martina Rimmel-Dobler, die mit ihrer Mama Irmgard und dem Brauchtumsverein Plangeross den Bergadvent organisiert, achtet streng auf Stil. Im gemütlichen Familienhotel Bergland verteilt sie Irmgards selbstgebackene Vanillekipferln und ist stolz darauf: „In Plangeross gibt es keine Weihnachtsmänner und keine blinkenden Lichterketten.“Nur Bratäpfel und Frieden auf Erden.