Riesen-Bundestag droht weiter zu wachsen
Grüne warnen vor Rekordzahl von 871 Abgeordneten – Beim Streit um Verkleinerung herrscht Stillstand
G– Im Streit um eine Wahlrechtsreform haben die Grünen die CSU scharf kritisiert. „Ich finde es verantwortungslos, wie die CSU an dieser Stelle agiert“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, Britta Haßelmann. Seit Wochen blockierten die Bayern jegliche Reformbestrebungen. Dabei dränge die Zeit. „Auch die CDU ist in der Verantwortung“, sagte Haßelmann.
Die Grünen warnen, ohne Reform könne sich das Parlament weiter aufblähen. Die Normgröße des Bundestags liegt bei 598 Abgeordneten. Aktuell gibt es die Rekordzahl von 709 Parlamentariern. Bei der Hochrechnung der letzten Wahlumfrage vom vergangenen Sonntag kommen die Grünen sogar auf 871 Sitze. Die SPD rechnet mit 835 Abgeordneten.
Ein solches Riesenparlament wäre nicht nur nach Ansicht Haßelmanns den Bürgern kaum noch zu vermitteln. Nicht nur, weil der Bundestag schon seit Jahren ergebnislos über die eigene Verkleinerung debattiert. Sondern auch, weil ein weiteres Anwachsen kosten würde: So bräuchten die neuen Abgeordneten hunderte neue Büros für sich und ihre Mitarbeiter, die erst gebaut oder in Form von Containern aufgestellt werden müssten. Entsprechende Notfallpläne hat die Bundestagsverwaltung bereits ausgearbeitet.
Das Signal von Abgeordnetencontainern im Regierungsviertel wäre verheerend, darüber ist sich der Berliner Politbetrieb einig. Schon jetzt kostet der Bundestag mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble warnt seit geraumer Zeit zur Verkleinerung. Erst im Januar mahnte er, die Zeit laufe dem Parlament davon.
Denn bereits im Frühjahr könnten die Parteien mit der Aufstellung ihrer Kandidaten für die Wahl im Herbst 2021 beginnen, sollte Corona den Aufstellungsversammlung keinen Strich durch die Rechnung machen. Danach würde ein Neuzuschnitt der Wahlkreise praktisch unmöglich.
Der Bundestag wächst, weil sich das Wahlverhalten geändert hat. Das liegt an den Direktmandaten. Die 299 Abgeordneten, die ihren Wahlkreis über die meisten Erststimmen direkt gewonnen, ziehen in den Bundestag ein. Eigentlich sollen weitere 299 über das Zweitstimmenverhältnis ins Parlament kommen. Problem: Bei den Erststimmen ist die Union stark – die CDU in Baden-Württemberg und die CSU in Bayern haben alle Wahlkreise abgeräumt. Das sind aber mehr, als der Union gemäß der Zweitstimmen zustehen, so genannte Überhangmandate. 2017 waren dies 46. Die werden durch Ausgleichsmandate für andere Parteien ausgeglichen, damit das Kräfteverhältnis der Zweitstimmen wieder hergestellt wird. Angesichts von sechs in den Bundestag gewählten Parteien waren dies 65.
Längst liegen zahlreiche Vorschläge auf dem Tisch: In der Union kann man sich vorstellen, nicht mehr jedes Überhangmandat auszugleichen, was CDU und CSU bevorteilen würde. Allerdings gibt es bis heute keine offizielle Position der Union, was die anderen Parteien scharf kritisieren. Die SPD will die Mandatsvergabe bei 690 Abgeordneten kappen, was die Union strikt ablehnt, weil damit auch Wahlkreisgewinner aus dem Parlament purzeln würden. Grüne, Linke und FDP schlagen eine Reduzierung der Wahlkreise auf 250 vor, was die CSU nicht will. Die Streichung von Wahlkreisen bringe wahrscheinlich gar nichts, sagt Michael Frieser von der CSU. Auch mit 250 Wahlkreisen könne der Bundestag rein rechnerisch weiter wachsen. Eine echte Verkleinerung brächte demnach nur ein Schnitt auf etwa 200 Wahlkreise. Und die wären dann so groß, dass viele Abgeordnete nur noch im Auto unterwegs und kaum noch vor Ort seien.
Seit Monaten geht trotz Gesprächen unter den Fraktionsspitzen und einem allgemeinen Bekenntnis zur Verkleinerungsbereitschaft in der Sache nichts voran. Zwei Treffen der Fraktionsvorsitzenden endeten zuletzt ohne Annäherung, ein drittes wurde am Dienstag kurzfristig abgesagt.
Die AfD sieht alle etablierten Parteien in der Schuld: „Sie haben das Wahlrecht pervertiert“, wetterte der AfD-Mann Christian Wirth am Mittwoch bei einer von seiner Partei angesetzten Bundestagsdebatte.
Grüne, FDP, Linke und auch die SPD geben dagegen der Union, und dort vor allem der CSU die Schuld am Stillstand. Eine „regionale Kleinpartei aus Bayern blockiert störrisch jeden Lösungsvorschlag“, schimpfte der FDP-Parlamentarier Benjamin Strasser am Mittwoch im Bundestag. Er verwies darauf, dass das Parlament erst im Januar über das Thema debattiert habe. Für das Hohe Haus sei es „traurig und peinlich“, dass man seitdem „keinen Millimeter“vorangekommen sei.
Die CDU sieht allerdings noch keinen Grund zur Panik. „Das Zeitfenster mag sich schließen, zu ist es allerdings noch nicht“, sagte der Abgeordnete Ansgar Heveling. Allen Parteien im Bundestag sei klar, dass die Zeit drängt.