Nun schrauben die Betreuer für ihre Klienten
Wegen Corona sind alle Werkstätten für Menschen mit Behinderung geschlossen
GELLWANGEN - „Wir versuchen, das Beste daraus zu machen“, sagt Matthias Rueß von der Stiftung Haus Lindenhof. Und: „Abwarten und das Beste daraus machen“, sagt auch Thomas Klement von der Habila GmbH. Beide sind für die Werkstätten und die weiteren Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung verantwortlich, die ihr jeweiliges Unternehmen in Ellwangen und der Umgebung anbietet. Wegen Corona darf dort kein Klient mehr beschäftigt und betreut werden. So will es die Corona-Verordnung des Sozialministeriums vom 18. März zur Eindämmung der Infektionen mit Sars-CoV-2, die vorerst bis zum 19. April gelten soll. Nun setzen die Träger alles daran, die Folgen für Mensch und Markt abzufedern. Sie sind erheblich.
„In den ersten Tagen hatte die Sache für unsere Klienten noch Urlaubscharakter“, berichtet Thomas Klement, der Leiter Berufliche Teilhabe und Qualifizierung am Rabenhof, einer Einrichtung der Habila GmbH. Hier leben Menschen mit seelischer Behinderung. 145 von ihnen arbeiten in den Werkstätten, die sich am Rabenhof selbst, im Industriegebiet Neunheim und An der Aue befinden, weitere rund 35 in Aalen und Schwäbisch Gmünd. „Aber nach drei Wochen schwindet das. Die Leute wissen nicht, was sie tun sollen. Das ist ein Riesenproblem.“
Etwas anders schätzt Matthias Rueß, der Leiter der Christophorus Werkstatt, einer Einrichtung der Stiftung Haus Lindenhof, die Lage ein. „Die Stimmung ist schon gut“, erzählt er, „aber die Leute vermissen die Werkstatt.“In Ellwangen ist die Stiftung Haus Lindenhof für Menschen mit geistiger, körperlicher oder multipler Behinderung da. Rund 140 von ihnen gehen einer Beschäftigung in einer der Werkstätten nach, die sich in der Haller Straße 24 und gegenüber in der Nummer 37 befinden. Für viele von ihnen sei es wichtig, am echten Arbeitsleben teilnehmen zu können. „Sie erleben dadurch eine hohe Wertschätzung“, so Rueß. Außerdem laufe in den Werkstätten viel vom sozialen Leben: „Bekannte zu treffen, sich auszutauschen, auch das spielt eine große Rolle“, erläutert der Werkstattleiter.
Jetzt bleiben die Menschen mit Behinderung in ihren Wohnheimen, Wohngruppen oder die Externen daheim in ihren Wohnungen bei Angehörigen, in Wohngemeinschaften oder auch alleine in einem Appartement. „Seit dem 20. März ist definitiv kein Klient mehr bei der Arbeit vor Ort“, so Klement für die Habila GmbH. „Es gibt ein paar, die mit der neuen Freizeit gut zurechtkommen“, weiß der Werkstattleiter nach Rückmeldungen aus den Wohnverbünden. „Aber ein Großteil findet das nicht erträglich.“Wenn ein Großteil der Tagesstruktur und viele Kontakte wegfallen, fühlten sich die Menschen einsam. Bei Menschen mit Suchtproblemen bestehe die Gefahr eines Rückfalls. Oder es gebe bei den Externen ganz einfach Probleme bei der Selbstversorgung, da das warme Mittagessen in der Werkstattkantine wegfällt. Und so stellt Klement besorgt fest: „Die Stimmung ist angespannt.“
Das ist die eine Seite. Auf der anderen stockt die Produktion. Manche Aufträge sind einfach komplett weggebrochen, wie zum Beispiel der Bereich des Caterings. Kein Wunder: Schulen und Kantinen sind wegen Corona geschlossen. Aufträge in der industriellen Produktion gebe es, aber: „Wir können nicht 180 Klienten-Hände ersetzen“, veranschaulicht Klement für den Rabenhof. Einige große und langjährige Auftraggeber könnten deshalb vorübergehend nicht mehr bedient werden. Ein Beispiel: „Für einen Großkunden verpacken wir normalerweise Auto-Kleinlampen in Zehner-Gebinde. Das ist ein Massenartikel. Das können wir derzeit nicht mehr leisten.“
Die Folgen werde man erst nach der Krise wirklich absehen: „Ein Kunde, der von uns nicht mehr beliefert werden kann, wird sich anderweitig umschauen“, fürchtet Klement. „Da ist das Risiko hoch, dass er nach der Krise nicht mehr zu uns zurückkehrt. Dann gehen die Probleme erst richtig los.“Das sieht Matthias Rueß von der Stiftung Haus Lindenhof genauso. „Die eigentlichen Folgen wird man erst hinterher sehen“, sagt er. „Wir steuern auf große Gewinneinbußen zu, die wir derzeit noch nicht einschätzen können.“Bei so manchem Auftraggeber der Christophorus Werkstatt stehe die Produktion still. Doch zum Glück seien einige wichtige Kunden weiter aktiv, etwa die Varta AG.
Die Werkstatt-Verantwortlichen setzen alles daran, mit viel Aufwand einige ihrer noch aktiven Auftraggeber zu bedienen. Dazu gehört bei der
Habila GmbH ein Großkunde, für den die Einrichtung viele Montagearbeiten übernimmt. Nun sitzen statt der Klienten die Fachkräfte, die Gruppenleiter und Betreuer an den Arbeitsplätzen und erledigen Elektromontagearbeiten für Heizlüfter, um die Liefertermine zu halten. „Es ist ok für sie, selbst Hand anzulegen“, sagt Klement. Aber eigentlich sei es ihre Aufgabe, Menschen anzuleiten und nicht selbst zu produzieren.
Die Stiftung Haus Lindenhof hält es nicht anders. „Wir machen mit der Produktion weiter, sonst verlieren wir vielleicht Aufträge an andere Firmen, und das würde uns hart treffen“, erklärt Matthias Rueß. Auch, wenn die Situation in der Werkstatt fast gespenstisch sei. „Es ist so leise“, erzählt der Leiter. „Sonst sitzen dort zwei Gruppen von Menschen mit Behinderung, 30 bis 60 Leute. Und jetzt werkeln einige wenige Leute.“Die Mitarbeiter gäben alles, lobt Rueß, „das ist ganz toll.“Das Gute: Sie erhielten einen neuen Einblick in den Arbeitsalltag ihrer Klienten, „wenn sie vorübergehend das Gleiche schrauben wie sie“. Und so finden sich in der Christophorus Werkstatt die Fachkräfte vor dem Spielzeug-Pick-up-Truck mit Pferdeanhänger der Firma Schleich wieder. „Der ist der Hammer“, weiß Rueß. Er hat kürzlich selbst beim Zusammensetzen mitgeholfen. „Dazu gibt’s Mini-Putzsachen, eine Pferdepflegerin und sogar Mohrrüben“, erzählt er und schmunzelt.
Über Kurzarbeit für ihre Mitarbeiter müssen sich weder die Rabenhofnoch die Lindenhof-Werkstätten Gedanken machen, im Gegenteil: „Überall
sind wir froh über helfende Hände“, versichert Klement. Zumal die Habila GmbH am Standort Rabenhof für ihre Klienten die verschiedensten Arbeitsfelder geschaffen hat, nicht nur in den Werkstätten, sondern auch bei internen Dienstleistungen: in der Großküche, der Wäscherei oder der Müllentsorgung innerhalb der Einrichtung. „Auch das dürfen unsere Klienten derzeit nicht mehr machen.“Auch diese Aufgaben übernehmen nun Mitarbeiter.
Trotzdem haben sowohl die Stiftung Haus Lindenhof als auch die Habila GmbH ihren freigestellten Beschäftigten zugesagt, vorerst weiterhin deren Arbeitsprämien zu zahlen. „Wir haben unseren Klienten zugesagt, dass wir ihnen für 42 Tage die Löhne weiterbezahlen“, bestätigt Klement. „Finanziell ändert sich für die Menschen mit Behinderung nichts“, sagt auch Rueß. „Ihre Bezüge werden weiter erstattet.“
Und noch etwas wird für sie getan: „Wir betreuen die Menschen, die bisher in den Werkstätten beschäftigt waren, nach wie vor weiter“, berichtet Rueß für die Stiftung Haus Lindenhof. Mindestens einmal pro Woche nehme der zuständige Gruppenleiter Kontakt zu seinen Leuten auf und erkundige sich nach der Tagesstruktur. „Fehlt etwas, dann sorgen wir von der Werkstatt für Abhilfe und liefern Arbeit in die Wohneinheit oder bei Einzelpersonen nach Hause ins Appartement oder zu den Angehörigen.“Zum Beispiel wandern die kleinen Plastikfelgen und Gummireifen für den Schleich-Pick-up in die Hände von unterbeschäftigten Klienten. Oder sie stecken in Heimarbeit kleine, vergoldete Kontakte auf Platinen, die die Fachkräfte in der Werkstatt später verlöten. „Die sind richtig froh, dass sie wieder was tun können“, weiß Rueß. Ein Bonus: Über YouTube versorgt die Stiftung Haus Lindenhof alle, die wollen, mit Anleitungen: „Wie bastle ich ein Osternest?“Oder: „Wie backe ich Arme Ritter?“
Ähnliches geschieht am Rabenhof: „Wir haben zahlreiche niederschwellige Aufträge, die wir aufteilen und in die Wohngruppen geben können“, erzählt Thomas Klement für die Habila GmbH. „Oder wir geben sie nach Hause zu einem externen Klienten, der nicht mehr weiß, was er mit sich anfangen soll.“So erhalten manche nun laufend drei Schachteln: eine mit Spezialschrauben, eine mit Dichtringen und eine leere für die zusammengesetzten Teile. Oder sie erhalten Miniaturen aus Pappe für Spielzeugkaufläden, die sie zu Nudel- oder Waschmittelpackungen falten. Klement: „Das ist hoch gefragt.“
„Solch eine Situation gab es noch nie“, sagt der Leiter Berufliche Teilhabe. So hart sie für alle sei, gelte doch: „Je konsequenter wir sind, das Virus nicht weiterzutragen, desto besser.“Und desto eher finde man vielleicht in normales Fahrwasser zurück. Das allerwichtigste ist für ihn im Moment: „Dass wir nur ja keinen Corona-Verdachtsfall am Standort bekommen.“Zum Wohl der Klienten ohnehin. Aber auch, was eine Quarantäne von zig Mitarbeitern bedeuten würde, mögen weder Klement noch Rueß sich nicht ausmalen. „Von daher ist jeder Tag spannend.“