So wird ein Schuh draus
Jenseits von Globalisierung und Gewinnmaximierung – Zu Besuch in einer einzigartigen Schuhwerkstatt im österreichischen Waldviertel, die lokal, sozial und nachhaltig produziert
Ihre ersten Schritte machen diese Schuhe schon lange bevor sie getragen werden. In der Waldviertler-Fabrikhalle in Schrems, Oberösterreich, ist der erste Schritt das Einkleben der Hinterkappe, die das lederne Oberteil des Schuhs im Fersenbereich stabilisiert. Im zweiten Schritt wird das Oberteil bei gut 100 Grad Celsius in Form gepresst, eine halbe Minute lang. Wichtig sei, dass keine Falten entstehen, sagt Barbara und nimmt einen gerade entstehenden, wandertauglichen Lederstiefel, der bis über die Knöchel reicht, von der Alu-Form: „No ganz haaß.“
Schuhproduktion in Schrems: eine ziemliche Sensation eigentlich. Ein Anachronismus. Viel zu teuer in globalisierten Zeiten. Spätestens gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts sind die deutschen, die schweizerischen, die österreichischen Schuhe zum allergrößten Teil nach Ostasien ausgewandert. Wie die Radios. Die Fernseher. Die Computer. Hier aber, in einer 5000Seelen-Stadtgemeinde kurz vor der tschechischen Grenze, zwei Autostunden nordwestlich von Wien, wurde die Zeit zurückgedreht.
In der Wirtschaftswunder-Ära war das Waldviertel noch der Ferne Osten Westeuropas. Direkt vor dem Eisernen Vorhang gelegen, niedrige Wohn- und Arbeitskosten. Hier standen die Werkbänke der freien Welt. Die Textilfabriken florierten. Als die Fabriken Anfang der 1980erJahre immer zahlreicher in den echten Fernen Osten übersiedelten, wandelte sich das Waldviertel zur Krisenregion. Von den einst 15 000 Jobs in der Textilbranche sind ein paar Hundert geblieben.
„In ganz Europa stirbt der Schuhmacher aus“, sagt Harald Habinger, 39, Produktionsleiter der Waldviertler-Schuhwerkstatt und seit rund 23 Jahren im Betrieb. Für seine Kollegen und überhaupt jeden ist er nicht der Herr Habinger, sondern der Harald. Harry passt auch. Auf das Du legen sie großen Wert bei den Waldviertlern.
„Die meisten Firmen gehen nach Indien, China und hast du nicht gesehen“, sagt Harald. „Wir wollen den Schuhmacherberuf wiederbeleben.“Seit 35 Jahren schafft die Werkstatt Arbeitsplätze für Schuster, über die Jahre immer mehr. Die Waldviertler haben sich, womöglich zu ihrer eigenen Überraschung, eine Nische geschaffen, in der sich leben lässt – als Anti-Globalisierungsfirma, die lokal, sozial und nachhaltig produziert. Nicht billig, denn ein Preiskampf wäre nicht zu gewinnen, dafür hochwertig und langlebig.
Es braucht Kunden, die für Schuhe relativ viel Geld bezahlen. Und Mitarbeiter, die diese für relativ wenig Geld fertigen. Nicht immer findet sich genug Nachwuchs, der dazu bereit ist. „Die Jungen heute wollen oft nichts Handwerkliches machen“, sagt Harald. „Die wollen viel Geld für wenig Arbeit.“Nicht ganz kompatibel mit der Waldviertler-Welt. Ein SchuhmacherEinkommen, sagt Harald, „beginnt so bei zwölfhundert Euro netto“.
Damit lassen sich auch im Waldviertel keine Bäume ausreißen.
Auf der anderen Seite bieten die Waldviertler ihren Mitarbeitern, was Harald „Sonderkonditionen“nennt: Mehrmals die Woche kommt ein Masseur. Ebenso ein Firmenarzt. Einmal die Woche lädt die Firma zum gemeinsamen Mittagessen. Statt Lohn- gab’s für die Waldviertler Lebensqualitätserhöhungen. Dazu zählt Harald auch den frühen Beginn des Arbeitstages: „Sechs bis vierzehndreißig: Des is die idealste Zeit.“Weil man den Nachmittag nicht in der Fabrik verbringen muss, wenn im Sommer die Hitze drückt. Weil man, wenn das Tagwerk getan ist, noch viel vom Tag hat.
Halb elf, der Stiefel macht seine nächsten Schritte. Der Markus übernimmt das blaue Wägelchen mit dem Schuh. Er taucht einen Pinsel in einen Topf mit Kleber und bestreicht damit die Unterseite der Innensohle. Mit der Seitenzwickmaschine zwickt er das Oberleder seitlich und an der Ferse fest. Zum Schluss entfernt er mit einer Zange die Klammern, mit denen Brigitte den Leisten an den Schuh getackert hat. Nicht mehr nötig. Der Schuh ist nun stabil.
Nach einigen weiteren Zwischenschritten werden Schuhe und Sohlen eingeleimt, wird das Wägelchen zu einer offenen Tür geschoben, wo schon andere Wagen an der Frischluft stehen. 20 Minuten Trocknen heißt es hier.
Wer in solch einem Päuschen ein paar Schritte in den Innenhof geht, dem kann es passieren, dass er dort einen Mann mit grauen Zottellocken trifft, der konzentriert eine Flüssigkeit in die hochstehende Wiese sprüht. „Kennst des?“, fragt er mit Blick auf die Sprühflasche. „Effektive Mikroorganismen.“Ganz natürlich, ganz bio. Zum Beweis sprüht er sich eine Ladung in den Mund.
Was für ein sympathischer, verschrobener Gärtner, könnte man meinen. Es ist nicht der Gärtner. Es ist der Chef. Heini Staudinger, Mitte sechzig, eigenbrötlerischer Eigentümer und geschäftsführende Galionsfigur der Waldviertler Werkstätten, die inzwischen allein am Hauptsitz in Schrems rund 170 Mitarbeiter haben und über ein Netz von mehr als 50 Verkaufsläden („Gea“) in Österreich, Deutschland und der Schweiz verfügen.
Gegründet wurde die Schuhwerkstatt 1984 von Karl Immervoll, dem Religionslehrer der Schremser Berufsschule, mit Unterstützung des damaligen Sozialministers Alfred Dallinger, der, so Staudinger, „im Herzen ein Kommunist war“. Das Ziel: ein paar Arbeitsplätze für den darniederliegenden Landstrich. Die Arbeitenden wurden zugleich Miteigentümer. Ein kollektivwirtschaftlicher Betrieb. „Verrückterweise“, sagt Staudinger, „ist diese Gründung geglückt.“Dass die Waldviertler-Erfolgsgeschichte in einer Krisenregion ihren Anfang nahm, ist für ihn indes kein Zufall: „Da gibt’s Spielräume. Es ist so viel so dermaßen kaputt, dass die Bürokratie es kaum schafft, irgendetwas zu verweigern.“
Staudinger hat von Beginn an an der Waldviertler-Geschichte mitgeschrieben, zunächst als wichtigster Kunde. 1980 hatte er in Wien sein erstes Schuhgeschäft eröffnet – obwohl er weder viel Ahnung von Schuhen noch das nötige Geld dafür hatte. Doch als er zum ersten Mal die dänischen Ökoschuhe „Earth Shoes“sah, ahnte er, der schon als Kind im Tante-EmmaLaden seiner Eltern mitarbeitete, dass diese auch in Österreich Potenzial haben. Er trampte nach Dänemark, kaufte Schuhe für 300 000 Schilling, das Geld schnorrte er bei Freunden. Bald konnte er weitere Filialen eröffnen. Das Geschäft lief sehr ordentlich.
Für das kommunistisch angehauchte Schremser Schuhkollektiv galt das weniger. 1994, zehn Jahre nach Gründung, übernahm Staudinger die Manufaktur mitsamt ihrer inzwischen angehäuften Schulden. Noch einmal gut zehn Jahre später war der Schuldenhaufen abgetragen. 2006 fusionierte Staudinger die Fabrik mit seiner Schuh- und Möbelladenkette „Gea“.
2008 geschah etwas, das Heini Staudinger einen „Knick in der Umsatzentwicklung nach oben“nennt. In jenem Jahr ging die USInvestmentbank Lehman Brothers in Konkurs: „Da, glaub ich, sind wir Gewinner geworden, weil das Misstrauen der globalen Wirtschaft gegenüber gewachsen ist. So sind wir, als Fahnenträger einer regionalen Wirtschaft, verstärkt zu Sympathien gekommen.“Ein noch dramatischerer Knick nach oben folgte, als die Waldviertler mit der österreichischen Finanzmarktaufsicht (FMA) aneinandergerieten.
Heini Staudinger, die Gängeleien durch Banken leid, hatte 2003 einen
„Sparverein“gegründet, über den er sich, gegen Zinsen, Geld bei Freunden und Unterstützern der Waldviertler lieh. Als die FMA 2012 hellhörig wurde und illegale Bankgeschäfte witterte, verbot sie dem Verein das Geldeinsammeln und drohte mit einem Bußgeld von bis zu 50 000 Euro. Außerdem sollte Staudinger drei Millionen Euro, die er sich von rund 200 Geldgebern geborgt hatte, binnen sechs Wochen zurückzahlen – eine existenzbedrohende Auflage.
Staudinger schaltete auf stur. Das Spielfeld für eine öffentlichkeitswirksame Asterixiade zwischen einem kleinen gallischen Dorf (Waldviertler) und den Schergen eines übermächtigen Römischen Reiches (FMA) war bereitet. Das Spiel ging überaus gut aus für die Waldviertler. Zwar gab es juristisch nix zu gewinnen, Staudinger wurde zu einer Verwaltungsstrafe von 2626 Euro verurteilt. Doch fürs Geschäft war der Zwist wie Zaubertrank. Medienvertreter gaben sich im Hauptquartier der widerspenstigen Waldviertler die Klinke in die Hand. Heini Staudinger wurde zum Promi. „Vor allem, weil viele Leute in mir etwas gesehen haben, was sie sich von sich selber wünschen“, glaubt er. „Irgendwie: zum Wahnsinn nein zu sagen.“
Im Waldviertel führte dieser Wahnsinn zu einem neuen kleinen Wirtschaftswunder. Innerhalb von fünf, sechs Jahren, erzählt Heini Staudinger mit leuchtenden Augen, verdreifachte sich der WaldviertlerUmsatz. Seitdem hat er sich bei gut 30 Millionen Euro eingependelt, ungefähr zwei Drittel davon entfallen auf die Schuhe. 2015 schließlich trat in Österreich das Alternativfinanzierungsgesetz in Kraft, das Crowdfunding nach WaldviertlerArt legalisierte. „Das Gesetz besagt, dass alles, was mir verboten war, jetzt allen erlaubt ist“, erklärt Heini Staudinger, fast feierlich. „Das ist doch was.“
Es ist früher Nachmittag, als der Lederstiefel, nach einigen Stunden und rund einem Dutzend Stationen in der Werkhalle, fast fertig ist. 630 Grad heiß ist die Luft, mit der Nicole die letzten überstehenden Nähte des Schuhs wegschmilzt. Noch ein paar Spritzer Imprägniermittel. Ein allerletzter Kontrollblick. Dann gibt Nicole eine Nummer in den Computer ein: 31 191716 E43 00. Haken dran. Feierabend für heute.
Es ist noch viel Tag übrig.