Wenigstens dem Steinbock geht es gut
Während die Artenvielfalt am Alpenrand positiv ist, leidet die Natur in Agrarregionen
GBERLIN - Gerade während der Corona-Pandemie ziehe es viele Menschen in die Umgebung, in die Parks und Wälder, sagt Bundesumweltministerin Svenja Schulze. „Wir erleben in diesen Zeiten, wie schön und wichtig die Natur für uns sein kann“, schwärmt die SPD-Politikerin. Sie habe den Eindruck, dass die Wertschätzung für die Natur gewachsen sei. Und das sei richtig, denn gesunde Ökosysteme seien auch eine Art „Lebensversicherung“für den Menschen.
Doch so richtig gesund ist die Natur in Deutschland nicht. Das sagt zumindest der „Bericht zur Lage der Natur 2020“, den Schulze an diesem Dienstag in Berlin vorstellt. Zwar habe sich die Lage in vielen Bereichen im Vergleich zur vorherigen Erhebung vor sechs Jahren verbessert, doch woanders gehe es mit der Artenvielfalt rapide bergab.
Die gute Nachricht für die Menschen am Alpenrand: Dort ist es mit der Natur in der Regel besser bestellt als im Rest und vor allem im Norden Deutschlands.
In der alpinen Region sind demnach zwei Drittel der Lebensraumtypen, die von der Flora-Fauna-Habitat-(FFH)-Richtlinie erfasst sind, in einem guten Zustand. Deutschlandweit gelten 70 Prozent der FFH-Lebensräume als gefährdet. Bei den alpinen FFH-Arten erhält knapp die Hälfte eine gute Erhaltungsnote, bundesweit ist es nur ein Viertel.
So diagnostiziert der Bericht bei den typischen „alpinen Flüssen mit krautiger Ufervegetation“dank der Renaturierungsmaßnahmen der vergangenen Jahre „einen leicht positiven Gesamttrend“, während die vor allem im Nordwesten Deutschlands vorkommende Uferschnepfe inzwischen vom Aussterben bedroht ist. Bei den Hochmooren sieht es im Norden Deutschland schlecht und im Süden gut aus, ähnlich ist die Lage bei nährstoffarmen Teichen mit Armleuchteralgen. Grund laut Bericht: Die Landwirtschaft im Süden ist weniger intensiv, also geraten auch weniger Nährstoffe ins Wasser.
Besser als früher geht es der Kegelrobbe im Norden, dem Steinbock im Süden, den Waldvögeln in ganz Deutschland sowie der Mopsfledermaus
im Osten und Süden. Die profitiert laut Bericht davon, dass mehr totes Holz in den Wäldern liegen bleibt. Auch die Artenvielfalt in den Städten habe zugenommen – so gehören nächtens durch Berlin schnürende Füchse längst zum Stadtbild. Gefährdet im Bestand ist laut Bericht hingegen immer noch der Wolf.
Insgesamt macht der Bericht die intensive Landwirtschaft für den Artenschwund bei Insekten und Vögeln verantwortlich. Vor allem artenreiche Wiesen und Weiden im „Offenland“seien verschwunden. Grund: Das Grünland werde zu oft gemäht oder gleich untergepflügt.
Die Chefin des Bundesamtes für Naturschutz, Beate Jessel, fordert deshalb eine Anzeigepflicht für Grünlandumbruch. Wann immer ein Landwirt eine Weide umpflügen wolle, solle er das vorher melden. Bei Verstoß gäbe es dann Sanktionen.
Auch die Autoren des Berichts wollen die Landwirte stärker an die Kandare nehmen: Sie fordern eine „deutliche Reduzierung der Nährstoffeinträge und einen Verzicht auf den Einsatz von Pestiziden und Saatgutbeizen“in FFH-Schutzgebieten.
Die Schutzgebiete sind heikel: Gegen Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission, weil die Gebiete seit Jahren nicht richtig ausgewiesen sind. Nun droht Brüssel mit Klage, was Schulze „bitter“findet. Man sei mit den zuständigen Bundesländern aber im Gespräch und arbeite „an einer gemeinsamen Antwort an die Kommission“, sagt sie. Apropos Brüssel: Für die anstehende Neuverteilung der EU-Agrarmilliarden schlägt Schulze eine Abkehr von der Flächenprämie vor. Es dürfe nicht sein, „dass Agrarmittel Eigentümern viel und der Natur nichts bringen“, sagt sie.
Ansonsten verspricht Schulze Tempo: Ein weitgehendes Pestizidverbot solle zusammen mit dem Landwirtschaftsministerium von Julia Klöckner (CDU) auf den Weg gebracht werden, das umstrittene Insektenschutzgesetz soll noch in diesem Jahr verabschiedet werden.
Die Landwirte, die Schulze erst im November wegen der Düngeverordnung und wegen des geplanten Insektenschutzgesetzes ausgebuht hatten, dürften das als Kampfansage verstehen.