Forschen im Schatten der Corona-Krise
Corona-Wissenschaftler im Rampenlicht - Krebsmediziner könnten zu kurz kommen
GBERLIN/MÜNCHEN/LÜBECK (dpa) Die wissenschaftlichen Arbeiten zum Coronavirus laufen auf Hochtouren. Innerhalb weniger Monate ist praktisch aus dem Nichts ein riesiger Forschungszweig entstanden, der mit viel Geld vorangetrieben wird. Wissenschaftler rund um den Globus wollen den Erreger verstehen, suchen fieberhaft nach Medikamenten und einem Impfstoff. Doch dadurch könnten andere drängende Probleme in der Medizin, etwa Bluthochdruck, Diabetes und Krebs, aus dem Fokus geraten, warnen Experten.
Matthias Tschöp, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz Zentrums München, das ebenfalls zur Forschung an Sars-CoV-2 beiträgt, sprach schon vor vier Wochen davon, dass bekannte Herausforderungen, die für viele Milliarden Menschen lebensbedrohlich sind oder ihre Lebensqualität deutlich beeinflussen, nicht aus den Augen verloren werden dürften.
„Die aktive weltweite Zusammenarbeit, um Lösungen aus der Covid-19-Krise zu finden, ist wichtig und gibt Anlass zur Hoffnung. Es wäre jedoch riskant, jahrzehntelange intensive Grundlagenforschung sowie translationale und klinische Forschung an den großen Volkskrankheiten jetzt zu unterbrechen und damit eventuell deren Erfolg zu gefährden“, mahnt Tschöp.
Damit spricht er insbesondere den Kampf gegen chronische Krankheiten wie Diabetes und Krebs an, die nach wie vor weltweit die Hauptursachen für Tod, Behinderung und Verlust an Lebensqualität sind. Mehr als 400 Millionen Menschen sind heute an Typ-2-Diabetes erkrankt. Damit zusammenhängende HerzKreislauf-Erkrankungen sind nach Angaben des Helmholtz Zentrums die Haupttodesursache in den westlichen Gesellschaften. Bis zum Jahr 2040 werde die Anzahl neuer Krebserkrankungen jährlich von aktuell 18 Millionen auf rund 30 Millionen steigen.
Kritisch sieht auch Professor Florian Steger, Medizinhistoriker und Medizinethiker an der Universität Ulm, die Entwicklung, dass während der Corona-Pandemie weniger zu anderen Themen geforscht, operiert und behandelt wurde: „Ein Tumor kennt keine Pandemie“, sagte Steger der „Schwäbischen Zeitung“. Das Recht auf Zugang zum Gesundheitssystem für alle Patienten sei nicht verhandelbar: „Wir dürfen die Menschen, die an der Seite sitzen, nicht vergessen.“Steger beobachtet, dass es derzeit verhältnismäßig viele Förderoptionen für die Corona-Forschung gäbe: „Das darf aber nicht zu einer Schwächung anderer Forschung führen!“
„Es wird sicherlich Wochen und Monate dauern, den Forschungsbetrieb wieder auf die Vor-Corona-Zeiten hochzufahren“, sagt ein Sprecher der Max-Planck-Gesellschaft (MPG).. Bis Mai war es demnach nicht möglich, experimentell im Labor zu arbeiten. Seitdem „wird darüber nachgedacht, wie der Forschungsbetrieb an den Instituten langsam wieder hochgefahren werden kann“– ohne die Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gefährden.
Klinische Studien am Menschen lagen in fast allen Bundesländern wochenlang nahezu auf Eis. In einigen Bundesländern sind sie schon wieder angelaufen, andere ziehen gerade nach, sagt die Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG), Britta Siegmund. Allerdings war es „immer eine NutzenRisiko-Abwägung“. Patienten, die bereits vor der Corona-Pandemie in Studien eingeschlossen wurden, seien durchgängig in den Studien geblieben und wurden weiter behandelt. „Aber de facto wurden zwischenzeitlich keine neue Patienten in nicht-Covid-assoziierte Studien eingeschlossen“, sagt Siegmund.
Probleme entstünden gerade bei großen Studien, die für die Freigabe von Medikamenten relevant seien, betont Siegmund. „Wenn diese Studien jetzt über mehrere Monate on hold sind, werden sie später abgeschlossen.“Und natürlich verzögere sich dann der gesamte Entwicklungsund auch Zulassungsprozess.
„Ich finde persönlich, wenn man den Betrieb auf 20 Prozent reduzieren muss, dann müssen die Ressourcen auch gerecht verteilt werden – unabhängig von der Forschungsfragestellung“, sagt der Vorsitzende der AG Wissenschaft des Medizinischen Fakultätentags, Christopher Baum.
Man könne nicht entscheiden, welche Forschungsfragestellung gesellschaftlich relevanter ist. „Ein Coronavirus-Forscher wäre vor einem Jahr als relativ unwichtig angesehen worden“, sagt Baum. „Und dann kommt es zu so einer Ausbruchssituation, und wir sind halt froh, dass wir Grundlagenforscher haben, die sich seit Jahren mit Coronaviren beschäftigen.“