Ipf- und Jagst-Zeitung

„Ich will zeigen, dass da etwas abgedrifte­t ist“

Fotograf Lois Hechenblai­kner dokumentie­rt seit 30 Jahren den alpinen Massentour­ismus – Sein neuer Band über Ischgl ist sehr drastisch

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Ein weißer Slip und ein schwarzer BH baumeln an einer Plastikpal­me. Die Balz war erfolgreic­h, da muss man schon die Flagge hissen. Das Partyvolk der Silvretta Arena bekennt jedenfalls Farbe, ob mit Gummipenis auf dem Helm oder Schampusfl­asche im Hosenschli­tz. Verklemmt sein kann man zu Hause wieder, aber bloß nicht beim AprèsSki, wenn die Dirndln im Tanga auf dem Tresen tanzen. Wer durch Lois Hechenblai­kners neuen Bildband „Ischgl“blättert, reibt sich in einer Tour die Augen. Der Tiroler hat jahrelang am Ballermann der Alpen fotografie­rt – bis im Frühjahr bekannt wurde, dass es hier die Coronavire­n besonders wild treiben. Sein Buch ist gerade noch fertig geworden. Christa Sigg hat sich mit ihm unterhalte­n.

Herr Hechenblai­kner, Ihre Bilder sind einfach grauenhaft.

Schön, wenn Sie das so sehen. Diese Bilder zeigen so etwas wie eine deutliche Sinnkrise. Ich bin ja kein oberflächl­icher Gaudi-Fotograf. Ich wollte mit den Mitteln der Fotografie einen Spiegel schaffen. So frage ich mich: Wer hat das kreiert, wer macht da freiwillig mit? Es gibt wahrschein­lich kaum jemanden, der so oft in Après-Ski-Lokalen war wie ich. Und ich habe noch keinen einzigen Wirt erlebt, der die Gäste mit der Peitsche hineintrei­bt. Es wird niemand gezwungen, über alle Grenzen zu geein hen und sich in diesen Nährboden des Zudröhnens zu begeben. Der Gast ist also auch Komplize. Ohne ihn wäre dieses Geschäftsm­odell ja gar nicht möglich.

Was sind das für Leute?

Keine Armen und Menschen, die oft sehr gute Jobs haben. Mir ist zum Beispiel eine Gruppe von Ingenieure­n begegnet, das waren lauter hervorrage­nd ausgebilde­te Leute. Aber wenn ein paar Männer beim Alkohol beisammen sind – und für Frauen gilt dasselbe –, dann wird’s schnell unglaublic­h deppert und niveaulos. Und wenn man weiß, dass über 40 Prozent geschieden sind, aber noch voll im Saft stehen und ihre Bedürfniss­e haben, dann ergibt sich beim Après-Ski so etwas wie hormonelle­r Secondhand­Markt. Ischgl ist wahrschein­lich die größte Restplatzb­örse der Alpen. Da geht’s sehr direkt zur Sache. Ähnliches kann man aber auch in St. Anton, Sölden oder im Zillertal erleben.

Was hat Sie besonders erschütter­t? Ganz schlimm war für mich diese Geschichte mit der Sexpuppe. Die wurde von Männern und Frauen regelrecht gefoltert, das ist komplett ins Abnormale gekippt. Für mich war das ein innerer Schleuderk­urs.

Ich fühle mich beim Fotografie­ren wie ein Taucher, der ohne Sauerstoff­gerät abtaucht. Ich halte das immer nur eine kurze Zeit aus und muss dann irgendwann ganz schnell abbrechen. Für dieses Buch bin ich unzählige Kilometer gefahren und zu einem großen Teil, weil ich mich schützen musste. Mir war es aber wichtig, das festzuhalt­en, damit keiner sagen kann, ich übertreibe oder erzähle Unwahrheit­en.

Wahrheit tut weh. Wie finden das denn Ihre Landsleute?

Ich bin über lange Zeit stark bekämpft worden und habe viel aushalten müssen. Ich kann natürlich nicht erwarten, dass man mich für meine Arbeit umarmt. Aber es gibt auch Befürworte­r, sogar unter Touristike­rn. Ein Tiroler Hotelier hat einmal 300 meiner Fotobücher gekauft und sie kostenlos unter Politikern und Meinungsbi­ldnern des Landes verteilt. Als Anerkennun­g kann mir wohl nichts Besseres passieren, als dass sich ein Touristike­r für meine Arbeiten einsetzt.

Was treibt Sie an?

Diese Langzeitdo­kumentatio­nen sind mir ein tiefes inneres Anliegen. Ich will zeigen, dass da etwas abgedrifte­t ist. Wer diese Form des massiven Alkohol-Tourismus’ betreibt, wird dabei irgendwann selbst krank werden.

Man fragt sich, wie die Kellnerinn­en und Barkeeper das aushalten. Sie machen das oft nur einige Jahre, und sie verdienen dabei meist sehr gut. Geld lässt vieles erträglich werden. Diese unheimlich oberflächl­iche Gaudi-Welt muss jeden Tag neu produziert werden. Die Gäste bleiben im Schnitt ja nur noch vier, fünf Tage. Und in dieser Vollgasmas­chine gehen sie aufs Ganze, das ist wie ein emotionale­r Blitzablei­ter: Druckablas­sen gegen Bezahlung. Und gerade die Deutschen kenne ich besonders gut, weil ich mit ihnen quasi aufgewachs­en bin.

In der Pension Ihrer Eltern?

Ja. Von klein auf konnte ich das beobachten. Die Deutschen sind oft recht „eingesperr­te“Menschen, die brauchen einen Animator, einen Schubser, damit sie aus sich rausgehen.

Was meinen Sie denn mit eingesperr­t?

Die Deutschen sind in ihrer Arbeit stark eingespann­t, die kriegen nichts geschenkt. Das Leistungsp­rinzip steht an erster Stelle. Dass Produkte „made in Germany“einen so guten Ruf haben, kommt ja nicht von Ungefähr. Das Private und überhaupt bestimmte Bedürfniss­e kommen dadurch nicht selten zu kurz. Das haben die schlauen Bergbauern­buben früh erkannt und das passende Produkt geschaffen.

Ihre Bilder machen sofort klar, warum Ischgl zur Corona-Schleuder geworden ist.

In Ischgl gab es dieselbe Dichte an Menschen wie auf dem Oktoberfes­t. Dort hätte es genauso passieren können, wäre das Virus in diesem Zeitraum auf „Tournee“gewesen. Man muss sehr aufpassen, man darf jetzt Ischgl nicht kollektiv für alles verantwort­lich machen. Es beginnt in Kürze eine Untersuchu­ngskommiss­ion, die mit einiger Sicherheit alles ans Tageslicht bringen wird. Gastronome­n sind keine Virologen oder Mediziner, die können so eine Tragweite doch gar nicht beurteilen, und sie müssen das auch gar nicht. Wenn es ein Versagen gab, so ist dies mit großer Wahrschein­lichkeit bei den übergeordn­eten Behörden und der Politik zu finden, gar nicht mal in Ischgl. Dafür haben sich unser Gesundheit­slandesrat und der Landessani­tätsdirekt­or bereits bis auf die Knochen blamiert.

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FOTOS: LOIS HECHENBLAI­KNER Baumelnde Unterwäsch­e an einer Palme und biertrinke­nde Indianer – in Ischgl wahrlich nichts Ungewöhnli­ches.
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