Ein junger Komponist will sich Gehör verschaffen
Neueinspielung von Jean Sibelius’ kolossalem Opus „Kullervo“
JGean Sibelius’ Frühwerk „Kullervo“wird selten aufgeführt. Im Grunde entfaltet diese 1892 in Helsinki aus der Taufe gehobene Sinfonische Dichtung für Sopran, Bariton, Männerchor und Orchester ihre volle Wirkung nur in einem LiveKonzert. Die fünf Sätze des kolossalen Opus basieren auf einer Episode des finnischen Nationalepos „Kalevala“. Mit ihrer imaginären Theatralik tendiert die Partitur ähnlich wie quasi-szenische Orchesterwerke von Hector Berlioz zu einer Art Höroper. In epischer Breite hat der junge Finne hier alles verarbeitet, was ihn während seiner Studienjahre in Helsinki, Berlin und Wien an sinfonischen Werken beeindruckt hat.
Anklänge an Bruckner und Tschaikowsky treffen in Sibelius’ „Kullervo“auf modale Archaik, Fünfviertel-Metren, seltsam kreisende Wiederholungen und unerwartet kühne harmonische Wendungen. Mächtige Männerchorblöcke lassen mit ihrer hämmernden Einstimmigkeit an Orff denken. Rohe Gesten, abrupte Pausen, ungestüme Hemdsärmeligkeit und Einbrüche elementarer Gewaltsamkeit in den erzählenden Klangfluss künden vom unbedingten Willen, sich neben den bereits erfolgreichen Zeitgenossen Gustav Mahler und Richard Strauss als kraftvolle sinfonische Stimme Gehör zu verschaffen.
Hannu Lintu, seit 2013 Chefdirigent des finnischen Radio-Sinfonieorchesters, hat Sibelius’ genialisches Monumentalgemälde nun mit „seinem“Klangkörper neu eingespielt. Unter Mitwirkung der Solistengeschwister Johanna und Ville Rusanen,
des Estnischen Nationalen Männerchors und des um 1900 in Helsinki gegründeten Polytech Choir ist eine großartige Wiedergabe des kräftezehrenden, im doppelten Sinne mitnehmenden Mammutwerks gelungen. Der mehr als 70 Minuten umfassende Spannungsbogen ist bei dem aus Jorma Panulas legendärer Dirigentenschmiede hervorgegangenen Sibelius-Spezialisten Lintu in besten Händen.