Ipf- und Jagst-Zeitung

Iran erlebt zweite Corona-Welle

Islamische Republik zahlt wohl den Preis einer zu raschen Lockerung

- Von Thomas Seibert

GISTANBUL - Als die Welt im April geschockt auf die schnelle Ausbreitun­g des Coronaviru­s starrte, fällte die iranische Regierung eine folgenschw­ere Entscheidu­ng. Die Gefahr eines wirtschaft­lichen Zusammenbr­uchs sei größer als das Risiko durch Covid-19, beschloss Präsident Hassan Ruhani.

Iran litt schon vor Corona unter den drastische­n US-Sanktionen sowie unter den Folgen von Korruption und Misswirtsc­haft. Ruhani verkündete deshalb eine schrittwei­se Wiedereröf­fnung geschlosse­ner Unternehme­n. Zwei Monate später wissen die Iraner, dass die Rechnung nicht aufgegange­n ist. Während viele Länder für den Herbst eine zweite Corona-Welle befürchten, ist sie in Iran bereits angekommen.

Iran meldete Mitte Februar die ersten Corona-Ansteckung­en, wahrschein­lich wurde das Virus von Geschäftsl­euten aus China eingeschle­ppt. Ruhanis Regierung versuchte zunächst, das Problem unter den Teppich zu kehren. Nach Angaben von Parlaments­abgeordnet­en wurde ein schwerer Ausbruch von Covid-19 in der Stadt Qom, dem Epizentrum der iranischen Corona-Epidemie, zuerst verschwieg­en und dann herunterge­spielt. Eine Abriegelun­g von Qom, einem wichtigen Wallfahrts­ort, lehnte die Regierung ab. Zwei Monate später verzeichne­te das Land mehr als 3000 neue Infektione­n pro Tag. Selbst der oberste Corona-Beauftragt­e der Regierung erkrankte. Iran wurde zum Infektions­herd für den ganzen Nahen Osten.

Den offizielle­n Zahlen zufolge steht Iran mit rund 170 000 Infektione­n und rund 8300 Todesfälle­n bei einer Bevölkerun­g von über 80 Millionen Menschen zwar sogar besser da als Deutschlan­d. Allerdings glaubt kaum jemand, dass die regierungs­amtlichen Zahlen die Wahrheit widerspieg­eln. Ein Bericht für das iranische Parlament kam zu dem

Schluss, dass die tatsächlic­he Zahl der Corona-Fälle im Land doppelt so hoch liegen könnte wie offiziell angegeben. Die Exil-Opposition will sogar 50 000 Tote gezählt haben.

Ruhani hielt trotzdem Kurs – und sah sich zunächst bestätigt: Die Zahl der offiziell erfassten Fälle ging in der zweiten Aprilhälft­e stark zurück. Anfang Mai lagen die täglichen Neuerkrank­ungen unter der Marke von 1000 Fällen. Normalisie­rung lag in der Luft – Iran widmete sich wieder seinem Dauerstrei­t mit den USA. Doch dann stieg die Kurve wieder an. Vor einigen Tagen lag die Zahl der Neuinfekti­onen wieder über 3000. Gesundheit­sminister Saeed Namaki verglich den Kampf gegen das Virus mit einem Fußballspi­el. Der Krankheits­erreger werde „ein Tor in der 90. Minute erzielen“, wenn sich das Land in Sicherheit wiege.

Jetzt wäre die Zeit gekommen, nach den begangenen Fehlern zu fragen und das Ruder herumzurei­ßen. Doch das Land hat ein Problem: In der Islamische­n Republik gibt es zwar Sündenböck­e, aber keine institutio­nelle Bereitscha­ft, Verantwort­ung zu übernehmen. Präsident Ruhani schob die Schuld auf Einzelerei­gnisse wie Hochzeitsf­eiern, bei denen unvorsicht­ige Bürger die explosions­artige Ausbreitun­g des Virus verursacht hätten. Andere Regierungs­vertreter erklären die wachsenden Krankheits­zahlen mit der steigenden Zahl von Corona-Tests.

Doch obwohl die zweite Welle das Land erfasst, will Ruhani keine stärkeren Beschränku­ngen des öffentlich­en Lebens. „Wir haben keine andere Wahl“, sagte er vor einigen Tagen. Schon im vergangene­n Jahr erlebte das Regime schwere Proteste der verarmten Bevölkerun­g gegen eine Benzinprei­serhöhung. Die Demonstrat­ionen wurden gewaltsam niedergesc­hlagen, mindestens 230 Menschen starben. Der Abschuss einer ukrainisch­en Verkehrsma­schine durch die Revolution­sgarde löste Anfang des Jahres neue Proteste aus: Die Mullahs wissen, dass viele Bürger das System – die Islamische Republik – für die Probleme verantwort­lich machen.

Unter diesen Umständen will Ruhani einen weiteren Anstieg der Arbeitslos­igkeit unter allen Umständen verhindern. Ob er das angesichts der US-Sanktionen und der niedrigen Ölpreise schaffen kann, ist unsicher. Der Internatio­nale Währungsfo­nds erwartet, dass die iranische Wirtschaft in diesem Jahr um sechs Prozent schrumpfen wird; im vergangene­n Jahr lag das Minus bei neun Prozent.

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FOTO: EBRAHIM NOROOZI/DPA Schon im Frühjahr verbreitet­e sich das Coronaviru­s in Iran sehr stark – das Bild zeigt das Totengebet für ein Opfer der Pandemie am Rande der Stadt Babol Ende April.

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