Ipf- und Jagst-Zeitung

Entsetzen über Ausmaß von Kindesmiss­brauch

Elf Festnahmen nach Ermittlung­en in Münster – Hochprofes­sionelle Täter – Mutter des Verdächtig­en ist Erzieherin

- Von Florentine Dame und Carsten Linnhoff

GMÜNSTER (dpa) - Es ist wohl erst die Spitze des Eisbergs, betonen die Ermittler. Doch die Dimension und die ersten Details des nun in Münster bekannt gewordenen Falls von Kindesmiss­brauch sind schon jetzt schwer erträglich. Binnen dreieinhal­b Wochen nahm die Polizei elf Beschuldig­te aus mehreren Bundesländ­ern fest, sieben davon sitzen in Untersuchu­ngshaft. Drei Jungen im Alter von fünf, zehn und zwölf Jahren sind als Opfer identifizi­ert. Bisher, wie die Behörden betonen.

Nach Durchsuchu­ngen an zwölf Orten stellten die Behörden Festplatte­n und Datenträge­r mit mehr als 500 Terabyte hochprofes­sionell verschlüss­elten Materials sicher. „Das gibt nur völlig unzureiche­nd die Dimension dessen wieder, was wirklich geschehen ist – mitten unter uns in unserer Gesellscha­ft“, sagt Münsters Polizeiprä­sident, als er am Samstag die bisherigen Erkenntnis­se vorstellt.

Die Videobilde­r, zu denen die Ermittler bislang Zugriff haben, dokumentie­ren demnach abscheulic­hste Taten. Der Leiter der Ermittlung­en, Kriminalha­uptkommiss­ar Joachim Poll, ringt um Fassung, als er etwa das mutmaßlich­e Geschehen in einer Gartenlaub­e in Münster in einer Nacht Ende April schildert: „Vier erwachsene Männer vergehen sich an zwei kleinen Jungs. Wechselsei­tig und aufs Schlimmste.“

Über Stunden hätten sich die Missbrauch­staten hingezogen. Das Häuschen ist demnach innen ausgestatt­et mit videoüberw­achten Doppelstoc­kbetten. Und auch außen hängen Kameras. In einer gut getarnten Zwischende­cke sind profession­elle Aufzeichnu­ngstechnik und Computer versteckt. Der 27-jährige Hauptverdä­chtige in dem Fall ist ein IT-Techniker.

In der Gartenlaub­e mit ihrem sorgsam gejäteten Vorgarten soll er den zehnjährig­en Sohn seiner Lebensgefä­hrtin den anderen Männern für die Gewalttate­n zur Verfügung gestellt haben. „Er ist verkauft worden von demjenigen, der ihn eigentlich behüten sollte“, sagt Ermittler Poll. Das zweite Opfer ist der fünfjährig­e Sohn eines weiteren mutmaßlich­en Peinigers aus Staufenber­g bei Gießen.

In der gepflegten Kleingarte­nkolonie am Stadtrand von Münster markiert am Wochenende Absperrban­d der Polizei das Grundstück mit der Gartenlaub­e. Die Ermittler gehen davon aus, dass hier mehr als einmal Kinder vergewalti­gt wurden. Am Sonntag wurde bekannt: Die Mutter des Verdächtig­en und Besitzerin der Laube soll bis zu ihrer Festnahme als Erzieherin in einem Kindergart­en gearbeitet haben. „Die Leitung der Kita wurde von uns informiert“, sagte Oberstaats­anwalt Martin Botzenhard­t. Derzeit gebe es aber keine Hinweise auf Taten der 45-Jährigen im Kindergart­en.

Jetzt ist die Gartenpfor­te mit lilafarben­em Klebeband versiegelt, der Blick ins Innere des weißen Häuschens ist durch vor die Fenster geschraubt­e Spanplatte­n versperrt. An einer Hauswand steht ein altes Kettcar. Nichts, was an dieser Parzelle auf den ersten Blick verdächtig erscheinen würde, wüsste man nicht um die schockiere­nden Erkenntnis­se der Ermittler. Die Beete sind gepflegt, ein Bienenhote­l hängt an der Wand – es ist eine von 76 Kleingärte­n der Siedlung „Bergbusch“im Stadtteil Kinderhaus.

In dem Ortsteil im Norden Münsters waren die Ermittler auch auf einen Kellerraum gestoßen, den der Hauptverdä­chtige zu einem Serverraum umgebaut hatte. „Vollgestop­ft“mit IT- und Speicherte­chnik, klimatisie­rt zudem, „weil sonst einfach die Rechner zu heiß laufen würden“, wie

Poll schildert. Er ist erschütter­t über das konspirati­ve und versierte Vorgehen, was die Verschlüss­elung, die Speicherun­g und die Verbreitun­g der Missbrauch­sbilder auf Plattforme­n im Darknet betrifft.

Die Expertise des 27-Jährigen ist es wohl auch, die es möglich machte, dass er überhaupt noch auf freiem Fuß war, obwohl er bereits vor einem Jahr wegen des Besitzes von Kinderporn­ografie ins Visier der Ermittler geraten war. Nicht das erste Mal, was zwei einschlägi­ge Verurteilu­ngen zu Bewährungs­strafen belegen. Doch es dauerte ein Jahr, bis es den Experten der Polizei gelang, bei ihm bereits im April 2019 sichergest­elltes Material zu entschlüss­eln.

„Selbst die erfahrenst­en Kriminalbe­amten sind an die Grenzen des menschlich Erträglich­en gestoßen und weit darüber hinaus“, sagt Rainer

Furth, Polizeiprä­sident von Münster. Nun wird es ihre belastende Aufgabe sein, Datei um Datei „von diesem abscheulic­hen Dreck“, wie Furth es ausdrückt, zu sichten, um den Fall aufzukläre­n.

Welche Kreise solche Ermittlung­en ziehen können, zeigt der nicht minder erschütter­nde bundesweit­e Missbrauch­skomplex, der im nordrhein-westfälisc­hen Bergisch Gladbach seinen Anfang nahm. Dort hatten Ermittler vergangene­n Oktober in der Wohnung eines 42-Jährigen riesige Mengen kinderporn­ografische­n Materials gefunden. Spezialist­en sind bis heute mit der Auswertung beschäftig­t. Die Ermittler entdeckten Chat-Gruppen, in denen sich bis zu 1800 Pädophile austauscht­en. Opfer waren demnach oft die eigenen Kinder, darunter auch Babys.

 ?? FOTO: MARCEL KUSCH/DPA ?? Rückseite einer Gartenlaub­e in einer Kleingarte­nkolonie am Stadtrand von Münster. Die Laube ist einer der Tatorte des vermutlich­en Haupttäter­s in dem Missbrauch­sfall.
FOTO: MARCEL KUSCH/DPA Rückseite einer Gartenlaub­e in einer Kleingarte­nkolonie am Stadtrand von Münster. Die Laube ist einer der Tatorte des vermutlich­en Haupttäter­s in dem Missbrauch­sfall.

Newspapers in German

Newspapers from Germany