Milliardenschwere Hassfigur
Großschlachter Clemens Tönnies steht in der Corona-Krise unter Beschuss wie noch nie
GRHEDA-WIEDENBRÜCK (dpa) - Clemens Tönnies (64) mag den Handschlag. Zumindest bis vor der Corona-Krise. Wenn der gelernte Fleischer aus Rheda-Wiedenbrück den Raum betrat, begrüßte er jeden persönlich. Da ein Schwätzchen, hier eine Anmerkung zu Schalke 04 oder dem ewigen Rivalen Borussia Dortmund. Tönnies vermittelte kumpelhafte Nähe, zeigte sich immer nahbar und ostwestfälisch bodenständig.
Das mit dem Handschlag ist allerdings so eine Sache. Und das nicht erst seit Corona und den hundertfachen Infektionen unter Werkvertragsarbeitern in seinem größten Werk in Rheda-Wiedenbrück. Bereits vor Jahrzehnten regelte Tönnies vieles per Handschlag. Der gilt auf dem Land genauso wie ein schriftlicher Vertrag. Allerdings brachte ihn das mehrmals in Erklärungsnot.
Im Streit mit seinem Neffen Robert (42) um Firmenanteile und die Führung des Unternehmens unterlag Clemens vor den Gerichten. Da zählten mündliche Verabredungen mit Bruder und Firmengründer Bernd Tönnies nicht. Die Richter wollten Verträge und Belege sehen.
Dass sein Neffe ihn immer wieder bis aufs Blut provozierte, ärgerte Clemens Tönnies maßlos. Die Familienstämme plauderten vor den Richtern die intimsten Details aus der Verwandtschaft aus – Beobachter verglichen das gerne mit der US-Fernsehserie Dallas. Ein Friedensschluss hielt nicht lange. Schnell war der Streit wieder da. Jetzt soll ein privates Schiedsgericht die Sache klären.
Hände schütteln darf Clemens Tönnies längst nicht mehr. Im Kreis Gütersloh schlägt ihm an vielen Stellen blanker Hass entgegen. Die Menschen machen den Milliardär wegen seines Umgangs mit Werksarbeitern für den Rückschlag bei der CoronaBekämpfung verantwortlich. Wer aus Gütersloh und Umgebung kommt, ist nun in vielen deutschen Urlaubsregionen unerwünscht.
Tönnies ist ein Unternehmer, der aus den Wirtschaftswunderzeiten stammen könnte: jovial und hemdsärmelig – Kritiker nennen ihn bisweilen auch rücksichtslos. Ähnlich wie die Firmenpatriarchen der jungen Bundesrepublik baute der Metzgerssohn, zunächst zusammen mit seinem 1994 gestorbenen Bruder Bernd, ein verzweigtes Unternehmensimperium auf und wurde beinahe aus dem Nichts zur Nummer eins der deutschen Schlachtbranche. Dabei wollte er „lieber Radio- und Fernsehtechniker lernen, als in der blöden Wurstküche herumzustehen“, wie er in einem Interview gesagt hat.
Bei seinem 60. Geburtstag sang Clemens zusammen mit Stargast Helene Fischer auf der Bühne sein eigenes Ständchen. Altkanzler Gerhard Schröder und Russlands Präsident Wladimir Putin gehören zu seinen Kontakten in die Politik. Er nutzt das gleich doppelt. Für den Fußballclub Schalke 04 und die Expansionspläne seiner Firma. Der Markt in Deutschland war ausgereizt, den TönniesKonzern zog es auch nach Russland.
Einen „Schlachter mit GlamourEffekt“hat ihn das Fachblatt „Agrarzeitung“genannt. Das ist noch nicht lange her, doch von Glanz dürfte inzwischen niemand mehr sprechen. Der 64-Jährige ist für viele zum Gesicht einer Branche geworden, der nicht erst seit dem Corona-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück ausbeuterische Arbeitsbedingungen und eine menschenunwürdige Unterbringung von Werkvertragsbeschäftigten vorgeworfen wird. Auf Interviewanfragen lässt er momentan Absagen erteilen. Bei seinem einzigen öffentlichen
Auftritt nach Ausbruch der Pandemie gab er sich kämpferisch. „Wir werden diese Branche verändern.“Tönnies hätte wohl die Mittel dazu.
„Tönnies ist in der Fleischwirtschaft das Leitunternehmen der Branche. Es hat eine Rolle wie Aldi im Lebensmittelhandel“, sagt der Agrarökonom Achim Spiller von der Universität Göttingen. Mit der Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück habe Tönnies ein neues Modell für Schlachtung und Verarbeitung entwickelt, „mit großer Flexibilität und hohem Verarbeitungstempo bis hin zum fertig verpackten Produkt“. Rund 30 Prozent der in Deutschland geschlachteten Schweine werden von Tönnies zerlegt und weiterverarbeitet – 2019 rund 17 Millionen Tiere.
Tönnies kann kurzfristig schneller und mehr liefern als andere. Für geringe Arbeitskosten sorgen massenhaft nach Ostwestfalen geholte Arbeiter aus Osteuropa. „Mit diesem System hat Tönnies in Europa die Kostenführerschaft erlangt“, betont der Wissenschaftler.
Die Krise im Schlachthof hat auch auf den Fußballmenschen Tönnies übergegriffen. Seit 2001 hat er als Aufsichtsratschef beim Bundesligisten Schalke 04 das letzte Wort. Viele Jahre war Tönnies bei den Anhängern beliebt – solange der sportliche Erfolg da war. Doch auch das ist vorbei. Nach Äußerungen über das Fortpflanzungsverhalten von Afrikanern ließ er wegen eines Verstoßes gegen das in Clubsatzung und Leitbild verankerte Diskriminierungsverbot sein Amt drei Monate ruhen.
In Schalke brodelt es seitdem an allen Ecken und Enden. Viele Fans treibt die Sorge um, dass der Club in den Strudel der Krise im Tönnies-Unternehmen gerät. Am Samstag wollen sie unter dem Motto „Schalke ist kein Schlachthof – gegen die Zerlegung unseres Vereins“demonstrieren.