Anhaltende Katastrophe
Im Jemen droht durch den Angriff der Huthi-Rebellen eine erneute Flüchtlingswelle – Fast 20 Millionen Menschen leiden Hunger
LIMASSOL/SANAA - Jedes fünfte Kind unter fünf Jahren ist unterernährt, insgesamt hungern laut UN 16 Millionen Menschen, weitere fünf Millionen stehen kurz davor. Im Jemen droht nach Einschätzung der Vereinten Nationen eine der größten humanitären Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte. Grund ist ein seit Jahren tobender Bürgerkrieg, in den mittelbar auch internationale Mächte beteiligt sind. Nun könnte eine Großoffensive der pro-iranischen Huthis eine erneute Flüchtlingswelle auslösen und die humanitäre Katastrophe in dem bitterarmen Land weiter verschärfen. Wir klären die wichtigsten Fragen und Antworten.
Am 4. Februar hatte US-Präsident Joe Biden in einer außenpolitischen Rede erklärt, dass „dieser Krieg (im Jemen) aufhören muss“. Gleichzeitig kündigte er an, die offensiven Operationen der Saudis im Jemen nicht länger zu unterstützen – und strich die Huthis von der Liste ausländischer Terrororganisationen. Wie reagierte die pro-iranische Schiitenorganisation auf den Kurswechsel der USA?
Mit Krieg. Vor möglichen Friedensoder Waffenstillstandsverhandlungen wollen die Huthis ihre militärische Position weiter verbessern. Ihr Ziel ist die Eroberung der Provinz Marib im Osten des Landes. Die gleichnamige, offenbar schon umzingelte Hauptstadt der ölreichen Region gilt als die letzte Bastion der schwachen, aber internationalen anerkannten Regierung des Jemens unter Präsident Hadi. Diese wird sowohl politisch als auch militärisch von Saudi-Arabien gestützt.
Welche Folgen hätte die Eroberung von Marib durch die Huthis? Vermutlich das Ende der Hadi-Regierung. Für Saudi-Arabien und seinen de facto Herrscher Mohammed bin Salman, kurz MBS, wäre der Fall von Marib eine Katastrophe. Der saudische Kronprinz hatte im März 2015 mit einer gewaltigen Militärintervention auf den Vormarsch der Huthis, die aus der Perspektive Riads „einen iranischen Brückenkopf “im Jemen errichten würden, reagiert. „In wenigen Wochen“, hieß es damals in Riad, werde Präsident Hadi zurück an der Macht in Sanaa sein.
Sechs Jahre später haben die proiranischen Huthis ihre Macht konsolidiert. Saudi-Arabien befindet sich in einer Position der Schwäche, kann den Krieg aber nicht gesichtswahrend beenden, weil dies eine schwere Niederlage für MBS bedeuten würde. Um den Fall von Marib zu verhindern, hat Riad seine Luftangriffe auf Ziele der Huthis massiv verschärft. Diese reagierten am Sonntag mit Drohnen- und Raketenangriffen auf Ölanlagen im Osten von Saudi-Arabien. Zuvor waren Huthi-Raketen auch in der Region von Dschidda eingeschlagen.
Um eine Verschärfung der humanitären Katastrophe im Jemen zu verhindern, haben die Vereinten Nationen und die USA die Huthis aufgefordert, ihre Offensive in der Provinz Marib zu stoppen. Warum gerade dort?
In Marib leben bis zu zwei Millionen jemenitische Binnenflüchtlinge, also Vertriebene aus anderen Landesteilen. Marib, wo sich große Flüchtlingslager befinden, war für sie der letzte Rettungsanker. Eine erneute Flucht würden diese Menschen womöglich nicht überleben.
Auch in anderen Landesteilen ist das Leid riesengroß. Der Konflikt hat nach Einschätzung von Amnesty International die schwerste humanitäre Katastrophe seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ausgelöst. Ist die Lage wirklich so dramatisch?
Zweifellos. 24 der 30 Millionen Einwohner sind auf internationale Hilfe angewiesen. Viele von ihnen, vor allem die Kinder, sind akut von Hunger bedroht. Die meist völlig entkräfteten Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Gesundheitsversorgung ist völlig unzureichend, eine wirksame Bekämpfung der im Land grassierenden Seuchen
Cholera und Malaria daher kaum möglich. Auch dem Coronavirus sind die Jemeniten meist schutzlos ausgeliefert. Da kaum getestet wird, ist die Zahl der Covid-Toten, vermutlich einige Tausend, nicht bekannt. Wegen der anhaltenden Kampfhandlungen und der von Riad verhängten Seeblockade erreicht die Nothilfe den Jemen nur unregelmäßig.
Trotz dieser dramatischen Lage ist die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, dem Jemen zu helfen, gering. Warum? Bei der letzten UN-Geberkonferenz für Jemen in Genf Ende Februar wurden mit 1,7 Milliarden Dollar weniger als die Hälfte der benötigten Hilfsgelder zugesagt. Deutschland kündigte 240 Millionen Dollar Hilfe an, die Schweiz lediglich 14 Millionen Franken. Als Grund für die Spendenmüdigkeit wird die Bewältigung der Corona-Krise im Westen genannt. Hinzu kommt, dass der mörderische Konflikt im Jemen eher wenig Schlagzeilen macht und keine Flüchtlinge aus dem arabischen Bürgerkriegsland nach Europa kommen. Das kriegführende Saudi-Arabien hat seine Grenzen zum Jemen für Zivilisten hermetisch abgeriegelt.
Was kann die internationale Staatengemeinschaft noch tun, um ein Ende der Kämpfe sowie einen Frieden im Jemen zu erreichen?
Das gegen Saudi-Arabien verhängte Waffenembargo der USA sowie der politische Druck auf den Kronprinzen war zweifellos ein richtiger Schritt. Gegen die Huthis hat Washington allerdings keine Druckmittel, was sich gegenwärtig in der Provinz Marib zeigt. Die Huthis werden sich vermutlich erst dann bewegen, wenn entsprechende Signale aus Teheran kämen. Dort läge der Schlüssel für einen Frieden im Jemen, glaubt nicht nur die für den „Sanaa-Center for Strategic Studies“arbeitende jemenitische Islamwissenschaftlerin Maysaa Shuja alDin.
„Umsonst“wird sich das iranische Regime im Jemen-Konflikt nicht bewegen. Welche Gegenleistungen erwartet Teheran? Letztendlich die Aufhebung der Sanktionen, die im Atomstreit mit Iran verhängt wurden. Teheran sieht Washington in der Pflicht, da Trump es war, der den Atomvertrag mit Iran gekündigt hatte. Zu den Druckmitteln der Iraner gegenüber den USA und der internationalen Staatengemeinschaft gehört nicht nur die Drohung einer fortgesetzten Urananreicherung. Auch die Aktivitäten der Verbündeten im Libanon, Syrien, Irak und Jemen, wo sich die Huthis in der Offensive befinden, werden bei Verhandlungen als Druckmittel in die Waagschale geworfen.