Der Pazifik muss die Katastrophe ausbaden
Japan verklappt radioaktives Kühlwasser aus dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima ins Meer
TOKIO - Wie wird man mehr als eine Million Tonnen verseuchtes Wasser los? Die japanische Regierung hat darauf eine einfache Antwort gefunden: Kippen wir die radioaktiv kontaminierte Brühe in den Pazifik. Eigentlich sollte die unpopuläre Entscheidung über das strahlende Erbe erst nach den Olympischen Spielen 2020 in Tokio getroffen werden, um einen internationalen, kritischen Mediensturm zu vermeiden. Nun hat die Corona-Pandemie die Spiele aber um ein Jahr auf diesen Sommer verdrängt. Doch das Fukushima-Problem duldet keinen weiteren Aufschub. Die Lagerkapazitäten sind zum Bersten voll.
Seit der Jahrhundert-Tsunami das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im März 2011 beinahe völlig zerstörte, müssen die havarierten Brennstäbe mit Wasser gekühlt werden, um eine weitere Kernschmelze aufzuhalten. Aber wohin mit der Flüssigkeit? Der Betreiber Tokyo Electric Power Company (Tepco) hat in den vergangenen zehn Jahren Millionen Tonnen verseuchtes Kühlwasser in etwa 1000 riesigen Tanks gelagert. Das ist extrem teuer, aber spätestens 2022 ist auf dem Gelände der AKWRuine kein Platz mehr dafür. Die Wassermassen würden ausreichen, um mehr als 500 olympische Schwimmbäder zu füllen.
Tepco steht buchstäblich das Wasser bis zum Hals. Der Konzern schiebt die Verantwortung jetzt auf die japanische Regierung. „Die Entsorgung des aufbereiteten Wassers ist ein unvermeidliches Problem bei der Stilllegung des Kernkraftwerkes Fukushima“, erklärte dazu Premierminister Yoshihide Suga. „Freisetzung ins Meer unter der Prämisse regulatorischer Standards“, heißt die Aktion nun in der sperrigen Amtssprache. Das Wasser soll erneut gefiltert und verdünnt werden, um radioaktive Isotope zu reduzieren. Zwar enthält die Brühe auch dann noch Tritium, das sich nur schwer von Wasser trennen lässt. Aber schließlich sei der Pazifik ja groß genug, so die Regierung.
Fairerweise muss man einräumen, dass sich die Verantwortlichen diese schwerwiegende Entscheidung nicht leicht gemacht haben. 2020 hatte eine Expertenkommission empfohlen, das Wasser entweder in die Atmosphäre zu verdunsten oder in den Pazifik abzulassen. Letzteres sieht die Regierung offenbar als die praktikablere und kostengünstigere Variante an. Unterstützung für die Tokioter Pläne kommt aus Washington. Das US-Außenministerium teilte mit, Japan habe die Entscheidung transparent getroffen und versichert, die weltweit anerkannten Standards für nukleare Sicherheit einzuhalten. Auch die Internationale Atomenergiebehörde hat das Ablassen des Fukushima-Wassers bereits gebilligt.
Allerdings wird dieser Prozess frühestens Mitte 2022 starten und
Jahrzehnte andauern. Damit ist jedoch die Existenz zehntausender Menschen an der Nordostküste in Gefahr. Vor allem die Fischer laufen Sturm. Der Chef der Föderation von Fischereigenossenschaften Hiroshi Kishi sagte: „Niemand wird mehr unsere Meeresprodukte kaufen wollen. Das wird ein Desaster für den wichtigsten Wirtschaftszweig in unserer Region und ist absolut inakzeptabel.“
Schon jetzt meiden Japans Verbraucher Fisch und Agrarerzeugnisse aus der Unglückspräfektur. Wissenschaftler aus aller Welt verweisen darauf, dass die im Wasser verbleibenden radioaktiven Stoffe wie Tritium und Carbon-14 nicht so schädlich sind wie andere Isotope. Aber auch sie können sich im Körper ansammeln und das Erbgut schädigen. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges warnt vor einem „Horrorszenarium“. Tritium könne über Fische, Muscheln und Algen in Restaurants und Supermärkte gelangen.
Südkoreas Regierung argwöhnt, das Ablassen des kontaminierten Wassers sei eine „Gefahr für die Meereswelt“. „Enorme Mengen belasteten Kühlwassers“könnten die Küsten des Pazifiks „weitreichend verunreinigen“. Seoul fürchtet um die „Gesundheit und Sicherheit der Menschen in beiden Ländern und in anderen Anrainerstaaten“. Südkoreanische Parlamentarier forderten mehrfach einen Importstopp japanischer Meeresfrüchte. Nach ihren Angaben wurden in Lieferungen unter anderem aus der Präfektur Fukushima radioaktive Spuren gefunden.