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Die Frage der Kanzlerkandidatur wird bei den Grünen unter Ausschluss der Öffentlichkeit bis zum Montag entschieden
BERLIN - Freunde der Wahrscheinlichkeitsrechnung hätten an diesem Szenario eine kleine Freude: Wie könnte der/die nächste Kanzler/in und der/die kommende Vizekanzler/ in heißen in Anbetracht der möglichen Bewerber, die derzeit auf dem Markt sind – SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz miteingeschlossen? Und wie viele Möglichkeiten der Koalitionsbildung wird es nach der nächsten Bundestagswahl geben? Wird eine Annalena Baerbock neben Markus Söder im Kabinett sitzen? Oder Armin Laschet neben Robert Habeck? Viele offene Fragen. Immerhin eine davon wird am Montag beantwortet sein: An diesem Tag wir die Grünen-Spitze ohne großes Brimborium und Gezänk bekannt geben, wer der/die potenzielle Anwärter/in für das Kanzleramt ist – entweder die 40-jährige Bundesvorsitzende Baerbock oder ihr 51-jähriger Partner an der Parteispitze.
Man könnte es eine historische Gelegenheit für die Grünen nennen: Wenn sich ihre Umfragewerte im September in Wählerstimmen umwandeln, haben sie tatsächlich Chancen, das Büro von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu übernehmen. Die Union, die derzeit ohnehin nicht in Topform ist, müsste noch ein wenig verlieren, SPD und FDP sich stabilisieren wahlweise noch etwas zulegen. Allein die Aussicht, mächtigster Mann im Land zu werden, ist für CDU und CSU Grund genug, auf offener Bühne – und noch viel härter im Verborgenen – um dieses Amt mit allen Mitteln zu ringen. Bei den Grünen hingegen: nahezu Grabesruhe. Die Parteimitglieder, einst bekannt, sogar berüchtigt für ihre Streitlust warten geduldig ab, wie sich die beiden Bundesvorsitzenden entscheiden werden. Bei der Fraktionssitzung in dieser Woche sei die Kanzlerkandidatur kein großes Thema gewesen, heißt es aus der Grünen-Bundestagsfraktion. Man nehme es, wie es kommt. Fast könnte man glauben, Grüne und Konservative hätten ihre Rollen getauscht.
Die beiden, auf die es am Montag und in den kommenden Monaten ankommt, Baerbock und Habeck, machen derweil das, was sie in den vergangenen drei Jahren an der Parteispitze geübt haben: ruhiges Miteinander,
öffentlich kein schlechtes Wort über den anderen, demonstrative Harmonie. Wie das funktioniert, auch in Zeiten der coronabedingten digitalen Kommunikation haben die Grünen-Chefs beispielsweise am Politischen Aschermittwoch demonstriert. Wie Herr und Frau BaerbockHabeck saßen sie zusammen in einem als Wohnzimmer inszenierten Studio, lachten viel gemeinsam und freuten sich über ihre Reden. Wenn es möglich wäre, würden sie, so der Anschein, am liebsten gemeinsam ins Kanzleramt einziehen mit einer fairen Job-Aufteilung 50 zu 50. Das wäre gut für die Work-Life-Balance, doch die Verfassung gibt eine/n Teilzeit-Kanzler/in nicht her.
Dabei könnten sich die GrünenVorsitzenden durchaus in die Wolle kriegen, wenn sie denn wollten. Denn so einfach ist die Entscheidung auch für sie nicht. Im aktuellen Politbarometer
der Forschungsgruppe Wahlen für den April trauen 42 Prozent aller Befragten Habeck ein besseres Ergebnis bei der Bundestagswahl zu als Baerbock (29 Prozent). Die Anhänger der Grünen zeigten sich in dieser Frage gespalten: 43 Prozent setzen auf einen größeren Erfolg mit Habeck, 44 Prozent glauben, dass mit Baerbock mehr Stimmen zu holen sind. Was den 51-Jährigen aber am meisten gegen seine Co-Vorsitzende aufbringen könnte, ist schlicht der Umstand, dass sie eine Frau ist. Denn wenn sie sich als grüne Frau für die Kanzlerkandidatur entscheidet, macht er als grüner Mann keinen Stich mehr. Dass sich daraus eine Zwangsläufigkeit für die GrünenVorsitzende ergibt, ihren Hut in den Ring zu werfen, sieht Agnieszka Brugger, Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Ravensburg, allerdings nicht. „Zu echtem Feminismus gehört es auch, die Entscheidung einer starken und souveränen Frau zu respektieren und zu akzeptieren“, sagt sie. Doch auch das gehört zur Wahrheit: Wenn es Baerbock nicht macht, steht im September bundesweit überhaupt keine Frau als Spitzenkandidatin zur Wahl.
Dass sie sich dereinst mit dieser Entscheidung auseinandersetzen müssen, war im Januar 2018, als die Bundestagsabgeordnete Baerbock und der Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein den GrünenVorsitz übernommen haben, nicht absehbar. Auf 8,9 Prozent der Stimmen war die Ökopartei bei der Bundestagswahl 2017 gekommen, nur 0,5 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl zuvor und sehr viel weniger, als viele Parteimitglieder erhofft hatten. Derzeit liegen die Grünen laut Politbarometer bei 21 Prozent, und es wird ihnen sogar noch mehr zugetraut. Was in der Zwischenzeit passiert ist? „Robert Habeck und Annalena Baerbock haben die Partei neu aufgestellt“, sagt Brugger. „Sie haben einen Politikstil des Miteinanders, von Verantwortungsbewusstsein und Empathie geprägt, der nicht nur bei grünen Mitgliedern, sondern auch bei vielen Menschen im Land großen Zuspruch findet“, ist sie überzeugt.
Für Habeck könnte das Lob, das ihm parteiintern gezollt wird, allerdings einen bitteren Beigeschmack haben. Denn aller Voraussicht nach wird die Frau, die er neben sich bekannt werden ließ, ihn nun überholen – trotz der nicht vorhandenen Regierungserfahrung, die ihr immer wieder entgegengehalten wird und trotz der nach wie vor vergleichsweise geringen Popularität in Deutschland. Wegen ihrer hohen Fach- und Sachkenntnis wurde die 40-jährige Völkerrechtlerin, die mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern im Alter von sechs und zehn Jahren in Potsdam wohnt, schon mehrfach als eine Art grüne Merkel bezeichnet. Der Vergleich mit CDU-Chef Armin Laschet mag zwar auch irgendwie schräg sein, aber mit ihm teilt sie wohl das Los, unterschätzt zu werden.
Während Habeck trotz peinlicher Wissenslücken etwa bei der Pendlerpauschale als lässiger und unkonventionell denkender Kopf im Politikbetrieb wahrgenommen wird, muss Annalena Baerbock für Aufmerksamkeit ackern. Das zeigt sich, wenn sie beispielsweise bestvorbereitet in Talkshows sitzt, angriffslustig und ganz tief drin in den Themen. Das zeigt sich auch bei Parteitagen der Grünen, wenn sie bei ihren Reden so richtig aufdreht und die Delegierten damit begeistert. In solchen Momenten kommt vielleicht auch die Leistungssportlerin durch, die Baerbock in ihrer Jugend war – Disziplin Trampolinspringen. Robert Habeck, Vater von vier erwachsenen Söhnen, schreibt dagegen zusammen mit seiner Frau Andrea Paluch Bücher, singt auch mal mit Ina Müller in der ARDSendung „Inas Nacht“und beantwortet Bierdeckel-Fragen. Den badenwürttembergischen Ministerpräsidenten hat er mit seiner Art jedenfalls schon dermaßen beeindruckt, dass Winfried Kretschmann sich bereits im Jahr 2019 öffentlich für den promovierten Philosophen als Kanzlerkandidat ausgesprochen hat. Das kam in der Partei allerdings so schlecht an, dass der Südwest-Grüne noch öffentlicher zurückrudern musste und auch Baerbock als „kanzlerkandidatenfähig“bezeichnete.
Einen „kleinen Stich ins Herz“nannte es die Grünen-Chefin in der „Süddeutschen Zeitung“, sollte sie auf die Kanzlerkandidatur verzichten müssen. Aber was für die Partei richtig sei, gehe vor, sagte sie. Von Habeck sind solche Aussagen nicht bekannt. Doch was auch immer die beiden am Montag verkünden: Im Herbst wird Habeck erstmals Bundestagsabgeordneter, da er auf Platz zwei der schleswig-holsteinischen Landesliste steht. Darüber hinaus gilt für ihn wahrscheinlich noch der Satz, den er 2018 in einem „Stern“-Interview gesagt hat: „Ich hatte ein Leben vor der Politik, und ich weiß darum, dass es auch ein Leben nach der Politik geben kann. Das gibt mir eine innere Freiheit.“