Der Nahverkehr als Klimaretter
Vernetzte Angebote könnten Autoverkehr überflüssig machen – Die Entwicklung gewinnt an Schwung
BERLIN - Per App bucht die Familie morgens Plätze im kleinen ShuttleBus, der sie zum nächsten Bahnhof bringt. Im Zug warten kindergerechte Plätze. Nebenan im Arbeitsbereich schaut die Mutter während der Fahrt auf eingegangene Mails und verständigt sich mit Kollegen über den Tagesablauf. In der Stadt angekommen bringt der Vater beide Kinder mit einem Ruftaxi zu den Großeltern, während die Mutter mit dem Leihrad ins Büro fährt. Der Transport von Tür zu Tür ist im bezahlbaren Jahresticket der Verkehrsbetriebe enthalten. So bequem und stressfrei, da lässt die Familie das eigene Auto lieber in der Garage stehen.
Noch sind solche Bahnen oder Komplettangebote Zukunftsmusik. Doch die einzelnen Elemente werden bundesweit schon in vielen Modellprojekten erprobt. Die Umsetzung gewinnt langsam an Fahrt. „Die jüngst seitens der EU verschärften Klimaschutzziele sind nur erreichbar, wenn viel mehr Personen mit Bus und Bahn unterwegs sind“, sagt Ingo Wortmann, Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).
Was möglich ist, zeigt beispielsweise das Reallabor Hamburg. Die Bahn-Tochter Ioki erprobt im Rahmen des Forschungsverbunds so genannte On-Demand-Verkehre im Umland der Hansestadt. Die Fahrgäste werden zu Hause abgeholt und an die nächste S-Bahn-Station gefahren. Unterwegs können weitere Passagiere mit dem gleichen Ziel zusteigen. Einen festen Fahrplan oder Linienverkehr gibt es nicht. Immerhin 400 000 Mal wurde das Angebot in den vergangenen zwei Jahren genutzt. „In Hamburg wären ein Viertel der Shuttle-Touren ansonsten mit dem eigenen Auto gefahren worden“, sagt Markus Pellmann-Jansen, der für Ioki Verkehrsanalysen erarbeitet. Einer Zielgruppe hilft dieser Service besonders. „Rollstuhlfahrer haben im ländlichen Raum zunehmend Schwierigkeiten, ein geeignetes Angebot zu finden“, erläutert der Experte.
Ein großer Schritt nach vorne ist die jüngst beschlossene Reform des Rechtsrahmen bei der Beförderung von Personen. Die sogenannten Bedarfsverkehre werden damit ermöglicht. Ohne dass sich Mietwagenanbieter wie Uber zu Lasten des öffentlichen Verkehrs die besten Rosinen aus dem Markt herauspicken können. Die Möglichkeiten müssten jetzt auch klug von den Kommunen eingesetzt werden, fordert Wortmann.
Das wird vor allem eine Frage des Geldes sein. Dabei hat die Bundesregierung hier schon deutlich draufgesattelt. Für den Infrastrukturausbau gibt es für die Gemeinden derzeit eine Milliarde Euro im Jahr, ab 2025 die doppelte Summe.
Doch gleichzeitig stecken die Verkehrsunternehmen durch die Pandemie tief in der Krise. Zwar gleichen Bund und Länder die Verluste noch aus. Doch die an das Auto und das Fahrrad verlorenen Kunden müssen erst einmal wieder Vertrauen in den Nahverkehr fassen. Wann an die alten Fahrgastrekorde angeknüpft werden kann, weiß niemand. Zunehmen werden laut VDV auch die Jahrestickets gekündigt. Im Schnitt wandern derzeit 15 Prozent der Abonnenten ab.
Die Digitalisierung soll nun zunächst einmal bessere Angebote ermöglichen. Algorithmen prognostizieren den Bedarf an Fahrten oder stellen die Routen für Gemeinschaftstaxis zusammen. Apps ermöglichen die leichte Buchung von
Fahrten per Smartphone. Der Datenaustausch verschiedener Verkehrsanbieter ermöglicht ein genaues Bild der aktuellen Situation im Verkehr.
Nur muss das alles noch im Sinne eines Komplettangebotes miteinander verknüpft werden, fordert der Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). „Es gibt bisher kaum Ideen dafür, wie die Leute von Tür zu Tür kommen“, kritisiert Knie. Einen Mangel sieht er im fehlenden Anreiz für Verkehrsunternehmen, tatsächlich mehr Kunden zu transportieren. „Mehr Fahrgäste erhöhen bei ihnen erst einmal mehr Kosten“, stellt Knie fest. Bei größerem Zulauf müssten Verkehrsverträge womöglich neu ausgeschrieben werden. Die Lösung sieht der Forscher darin, dass die Kommunen oder Landkreise durchgängige Verkehrsketten ausschreiben, nicht mehr nur einzelne Netze oder Linien. „Da sind Konsortien von Bahnunternehmen, Carsharing-Firmen oder Ridepooling-Anbietern gefragt“, sagt Knie.
Klar ist schon, dass sich diese Angebote nicht selbst tragen, wenn die Fahrpreise akzeptabel bleiben sollen. Eine Entlastung bei den kostenintensiven Busfahrten auf Abruf erhoffen sich die Anbieter vom autonomen Fahren. Gerade in Stadtrandlagen und auf dem Land könnten selbstfahrende Busse eine gute Chance für den öffentlichen Nahverkehr werden“, glaubt der VDV. Allerdings sieht der Verband darin keine Konkurrenz zum herkömmlichen Bus mit Fahrer, sondern nur eine Ergänzung. Erprobt werden die selbstfahrenden Busse bereits. Von einem Regeleinsatz ist die Technologie allerdings wie beim Auto auch noch weit entfernt. Ursprüngliche Prognosen, die Mitte des Jahrzehnts den Durchbruch vorsahen, wurden längst wieder kassiert.
Die Nachfrage nach öffentlichen Verkehrsangeboten wird künftig auch durch ein schlechteres Angebot für den Autoverkehr beflügelt. Parken wird verteuert, Pkw-Fahrspuren vermindert, Busspuren ausgebaut und die Geschwindigkeit weiter begrenzt. Anders gesagt: Die Fahrt im eigenen Auto wird so teuer und langsam, dass der Umstieg auf öffentlich Verkehrsmittel attraktiv wird.
Wie teuer ein leistungsfähiger und moderner Nahverkehr für den Steuerzahler am Ende wird, lässt sich nicht genau sagen. Es werden sicher Milliardenbeträge sein. Wie hoch der Bedarf ist, lässt sich am Beispiel der Bahn verdeutlichen. Allein für den Erhalt und die Modernisierung des vorhandenen Netzes gibt der Bund in diesem Jahrzehnt Dutzende Milliarden aus. Trotzdem reichen die Kapazitäten der Trassen und Bahnhöfe nicht aus. Das liegt Knie zufolge auch an einer ineffizienten Organisation der Schiene. „Statt an einem Strang zu ziehen wie beim Straßenbau, arbeiten bei der Schiene verschiedene Institutionen nebeneinander her, schaffen Bürokratie und Überregulierung“, kritisiert der Forscher, „so wird es den DeutschlandTakt auch in 25 Jahren noch nicht geben.“