„Schuldig, aber nicht zu bestrafen“
Freispruch im Kirchenasyl-Prozess gegen Benediktinermönch – Richterin betont Glaubens- und Gewissensfreiheit – Ein Urteil mit „Signalwirkung“
Von Ludger Möllers und Agenturen
An diesem Montagvormittag schauen Ehrenamtliche, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind, Kirchenjuristen, Asylpfarrer, Geistliche beider Konfessionen ebenso wie Beamte in den Ausländerämtern und Innenministerien nach Kitzingen: Vor dem Amtsgericht der Kleinstadt im Fränkischen muss sich Bruder Abraham Sauer von der Benediktinerabtei Münsterschwarzach verantworten. Der Vorwurf: „Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel“im Kirchenasyl. Als das Urteil fällt, atmen die Kirchenvertreter auf: Die Amtsrichterin bescheinigt Sauer, dass er auf dem Boden des Grundgesetzes handelt, wenn er Kirchenasyl gewährt. Bruder Abraham habe eine Straftat begangen, dies aber ohne Schuld: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“, heißt es in Artikel 4 der Verfassung. Der Angeklagte habe zwar rechtswidrig gehandelt, sagt eine Gerichtssprecherin am Montag nach der Urteilsverkündung. Der Mönch habe sein Handeln jedoch auf Glaubensund Gewissensgründe gestützt, „die das Gericht im vorliegenden Einzelfall als aus dem Grundgesetz hergeleiteten Entschuldigungsgrund“wertet.
Das Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist und gegen das die Staatsanwaltschaft Berufung einlegen kann, könnte wegweisend sein. Denn die Behörden prüfen immer öfter und immer schärfer, ob Kirchenasyl zu Recht gewährt wird. Nach der Urteilsverkündung spricht Bruder Abrahams Verteidiger, der Münchner Rechtsanwalt Franz Bethäuser, von einer „Signalwirkung“. Wie weit diese reichen wird, kann sich schon in den kommenden Wochen zeigen. Denn noch weiteren Ordensangehörigen drohen Prozesse. Schwester Juliana Seelmann von den Oberzeller Franziskanerinnen im Landkreis Würzburg etwa, die ebenfalls im Gerichtssaal ist, „aus Solidarität“, wie sie sagt. Oder Mutter Mechthild Thürmer. Der Fall der Äbtissin aus Kirchschletten bei Bamberg hatte für Schlagzeilen gesorgt. Sie würde notfalls ins Gefängnis gehen, betont sie immer, nachdem sie einen Strafbefehl nicht akzeptiert hat: Sie soll einer Frau Kirchenasyl gewährt haben und so Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt
geleistet haben. „Ich habe das Urteil so erwartet“, sagt die Ordensfrau im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, „denn es kann nicht sein, dass ich für Mitmenschlichkeit bestraft werde.“Konkret berichtet sie von einer Frau aus Eritrea, der das Kloster im Oktober 2018 Kirchenasyl gewährt hatte. Die 1996 geborene Afrikanerin war über Italien nach Deutschland gekommen: „Diese Frau hat Todesängste ausgestanden, ist mehrere Male vergewaltigt worden.“Wenn Menschen in Notlagen seien, „ist es unsere Pflicht, zu helfen: Dann stellen wir neben dem zehnten Bett auch noch das elfte auf!“Thürmer hofft nun, dass ihr Verfahren nach dem Urteil aus Kitzingen eingestellt wird.
Zurück ins Amtsgericht Kitzingen. Zum Gerichtsverfahren an diesem Montag kommt es überhaupt erst, weil die zuständige Amtsrichterin einen Strafbefehl gegen Bruder Abraham abgelehnt und eine Hauptverhandlung angesetzt hat. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm ebenfalls „Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt“vor und hatte eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen von je 40 Euro – also insgesamt 2400 Euro – gefordert. Der 49-Jährige steht in der Hierarchie des 80 Mönche großen Konvents weit unten, ist in der Verwaltung des Klosters beschäftigt und einer von zwei Ansprechpartnern für Flüchtlingsarbeit. Seit 2014 werden Geflüchtete auf dem Münsterschwarzacher Klostergelände beherbergt, derzeit sind es 36. Kirchenasyl ist dabei die Ausnahme. Vor drei Jahren erhielt die Abtei für ihre Flüchtlingsarbeit noch den Integrationspreis des Landkreises Kitzingen. Der Orden sei sich vom Abt bis zum Ältestenrat bewusst gewesen, dass die Gewährung von Kirchenasyl für Flüchtlinge für Ärger mit Behörden sorgen würde. Man melde die Daten der Flüchtlinge zwar den Behörden, greifbar sind sie jedoch nicht. Dies sei eine Übereinkunft zwischen Staat und Kirche. Und: Man kümmere ich wirklich nur um „einzelne, wohlbegründete Fälle“. Hier gehe es darum, „die Menschenwürde zu erhalten“.
Der Vorwurf der Strafverfolger: Bruder Abraham hatte im August 2020 einen im Gazastreifen geborenen, damals 25-jährigen Mann aufgenommen. Der Geflüchtete war über Rumänien in die Europäische Union eingereist und sollte als sogenannter Dublin-Fall wieder dorthin abgeschoben werden. Die Regelung lautet: Wird der Betreffende in einem anderen EU-Staat aufgegriffen, kann er in das Einreiseland zurückgeschickt werden, weil nur dieses für den Asylantrag zuständig ist. So soll sichergestellt werden, dass ein Asylantrag nur von einem Mitgliedsstaat geprüft wird. Das Regelwerk wurde 1990 in der irischen Hauptstadt Dublin vereinbart.
Konkret wäre jener Flüchtling innerhalb von sechs Monaten zurück nach Rumänien abgeschoben worden. Das aber war unmöglich, weil er sich während dieser Zeit im Kirchenasyl in Münsterschwarzach befand und dem Zugriff der Behörden entzogen war. Mittlerweile hat der 25-Jährige nun aber das Recht auf ein Asylverfahren in Deutschland. Dieses läuft, er hat das Kirchenasyl verlassen und befindet sich in einer Aufnahmeeinrichtung in Mittelfranken.
Dass das Kloster dem Mann Kirchenasyl gewährt hat, ist für die Staatsanwaltschaft Rechtsbruch. Es gebe „eine eindeutige Rechtslage“. Bei Kirchenasyl gestehe der Staat ein besonderes Prüfungsverfahren zu, in dem der Härtefall noch einmal genau angeschaut werde. Dies sei auch in diesem Fall geschehen. Das Ergebnis habe erneut gelautet: kein Verfahren in Deutschland, zurück nach Rumänien. Der Staatsanwalt beantragt eine Verurteilung Bruder Abrahams. Das Kloster habe bewusst Recht umgangen, indem nach einem negativen HärtefallBescheid eine Ausreise verhindert worden sei.
Während der Hauptverhandlung bezeichnet Bruder Abraham das Kirchenasyl als Ultima Ratio, wenn es darum gehe, Menschen vor Menschenrechtsverletzungen zu bewahren. Diese gebe es in europäischen Ländern, etwa Ungarn. Dies hätten Flüchtlinge den Mönchen berichtet. „Wir haben dann gesagt: Das gibt es doch nicht, ist doch Europa. Wir haben uns doch alle den christlichen Werten verschrieben, da gibt es doch Menschenwürde, Menschenrechte.“Wenn es darum gehe, diese für einen Menschen zu erreichen, würde er auch eine Haftstrafe in Kauf nehmen, sagt der Mönch auf eine Frage der Amtsrichterin.
Zudem erinnert der Mönch an seine Sozialisierung in einer Großfamilie im unterfränkischen Binsfeld. Daheim seien christliche Tugenden gelebt worden, „wo man die Not des anderen wahrnimmt“. Es sei darum gegangen, nicht nur das
Eigene in den Vordergrund zu stellen, sondern die Gemeinschaft. „Für mich ist sehr wichtig in meinem Leben: auf die Menschen zu schauen, die vielleicht nicht so gesehen werden.“
Sauers Verteidiger Franz Bethäuser sagt in seinem Plädoyer, Bruder Abraham stütze sich auf die im Grundgesetz verankerte Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dies sei ein Individualrecht, das höher zu werten sei als das Kollektivrecht des Staates auf Strafverfolgung.
Zudem verweist Bethäuser darauf, dass in einer Ausführungsverordnung zum entsprechenden Strafrechtsparagrafen 95 darauf verwiesen werde, dass sich Menschen nicht der Beihilfe strafbar machten, wenn sie aufgrund ihres Berufes soziale Betreuung aus humanitären Gründen leisteten, mit dem Ziel eines menschenwürdigen Lebens. Explizit genannt sei in der Verordnung der Beruf des Seelsorgers. Außerdem sei der Asylbewerber nicht unverzüglich abgeschoben worden. Damit sei es zu einer faktischen Duldung gekommen.
Während der Staatsanwalt bei seiner Forderung bleibt, schließt sich die Amtsrichterin der Argumentation von Bruder Abraham und des Verteidigers an. Weil der Mönch gesagt habe, er akzeptiere zur Rettung der Menschenwürde eines Flüchtlings auch eine Freiheitsstrafe, habe er aus Glaubensund Gewissensfreiheit gehandelt. Glaubens- und Gewissensfreiheit sei nicht nur ein Abwehrrecht, sondern es müsse dadurch auch aktives Tun möglich sein. Sonst hätten die Väter des Grundgesetzes es ausgeschlossen. „Dass es an dem aktiven Tun in den Jahren vor dem Entstehen des Grundgesetzes gefehlt hat, das weiß nun wirklich jeder.“Die Richterin verweist zudem darauf, der Mönch habe keine Grundrechte Dritter tangiert. Der Angeklagte habe zwar die Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt, wie von der Staatsanwaltschaft angeklagt, rechtswidrig begangen. Die Gewissensfreiheit sei jedoch „ein schrankenloses Grundrecht“.
Aber die Juristin weiß auch, dass sie nicht das letzte Wort hat, dass ihr Urteil „nicht die letzte Entscheidung in dieser Sache gewesen ist“. Sie rechne damit, dass die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlegt. Dies sei durchaus auch in ihrem Sinne: „Wir brauchen eine Grundsatzentscheidung bei diesem Thema – da hilft alles nichts“, erläutert die Kitzinger Amtsrichterin.
Immer wieder wenden Kritiker ein, dass nur die bayerische Justiz in dieser Härte gegen Geistliche und Ordensangehörige vorgeht. Erstmals, so Bethäuser, sei jetzt ein solcher Fall vor einem Amtsgericht verhandelt worden. Damit habe ein Gericht sich inhaltlich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Die nächsten Verfahren folgen: Nach Auskunft des bayerischen Justizministeriums wurden im Freistaat 2020 27 Verfahren wegen der Gewährung von Kirchenasyl gegen Kirchenangehörige neu eingeleitet. Wie viele davon noch anhängig sind, konnte ein Ministeriumssprecher auf Anfrage nicht sagen.