„Ich hasse euch alle“
Bei einem Amoklauf in einem Gymnasium in Kasan kommen mindestens neun Menschen ums Leben
KASAN - Heute werde er eine gewaltige Menge Biomüll töten und sich dann selbst erschießen. „Ich bin wie Gott“, schrieb Ilnas Galjawijew am frühen Morgen auf Telegram. „Auf der Erde darf nichts Lebendiges übrig bleiben, das ist ein Fehler des Universums.“
Am Dienstag drang Galjawijew gegen 9.20 Uhr Ortszeit in das 175. Gymnasium der tatarischen Hauptstadt Kasan ein und erschoss nach Angaben der Regierung der Wolgarepublik sieben Kinder und zwei erwachsene Frauen. Die Staatsagentur TASS sprach von elf Todesopfern. Nach unterschiedlichen Angaben wurden 16 bis 21 Menschen verwundet. Laut den tatarischen Gesundheitsbehörden befanden sich von 18 verletzten Kindern am Nachmittag sechs in einem „äußerst schweren Zustand“.
Der 19-Jährige, die Polizei konnte ihn festnehmen, handelte nach Polizeiangaben allein, mehrere Agenturen hatten vorher von einem zweiten Amokläufer berichtet. Dieser habe sich mit mehreren Geiseln im dritten Geschoss des Schulgebäudes verbarrikadiert und sei von Einsatzpolizisten getötet worden. Das Medienportal RBK meldete unter Berufung auf Geheimdienstquellen, außerdem sei ein 41-jähriger Mann unter dem Verdacht der Komplizenschaft festgenommen worden.
Unklar ist auch, ob es bei der Terrorattacke eine Explosion gab, von der Augenzeugen berichteten. Ein Video aus der Schule zeigte Korridore mit zertrümmerten Türen, Glassplittern und abgerissenen Holzleisten. Auf einem anderen Video sieht man, wie Kinder im Erdgeschoss aus den Fenstern klettern und über einen Sportplatz davonlaufen, dann springen zwei Schüler kurz hintereinander aus dem dritten Stockwerk, Gewehrschüsse dröhnen.
In dem Gymnasium sollen sich 714 Kinder, 52 Lehrer sowie 18 Bedienstete befunden haben. Einer der Schüler erzählte dem Nachrichtenportal readovka.ru, mitten im Unterricht habe die Direktorin über Mikrofon gerufen, alle sollten sich in ihren Klassenräumen einschließen und niemandem aufmachen. „Die Klassenlehrerin schloss schnell ab, fünf Sekunden danach knallte eine Explosion.“Jemand versuchte, die Tür aufzubrechen, die Kinder hörten Schüsse und Schläge. Einige Zeit später kam Einsatzpolizei die Treppe zum dritten Stock herauf, die Schulleitung gab Entwarnung.
Ilnas Galjawijew war nach Medienangaben früher selbst Schüler des Gymnasiums. Eine ehemalige Klassenkameradin erzählte dem Nachrichtenportal ura.ru, er sei ein unauffälliger Einzelgänger gewesen. Und vielleicht habe er sich an einer Lehrerin rächen wollen, die verhinderte, dass er in die elfte Klasse versetzt wurde, weil seine Leistungen angeblich nicht ausreichten. Galjawijew verließ das Gymnasium.
Nach Angaben von RBK studierte er später an einem College der Kasaner Verwaltungsuniversität Informatik, ein Mitarbeiter des Colleges bezeichnete ihn als ruhigen und konfliktfreien Studenten. Aber laut der Pressestelle der Uni blieb er seit einigen Monaten den Prüfungen fern. Deshalb habe man ihm am 26. April vom Lehrbetrieb ausgeschlossen. Zwei Tage später erhielt er eine Waffenlizenz. Nach Ansicht der meisten russischen Beobachter gibt es kein Anzeichen für einen politischen Terrorakt. Dafür spricht auch ein RBKVideo von Galjawijews erstem Verhör. Dort schmäht er den Rest der Welt: „Ich hasse euch alle.“
Aber viele Eltern kritisierten gestern in den sozialen Netzen heftig das 175. Gymnasium von Kasan und seine Pädagogen. „Ein Gefängnis, keine Schule“, schreibt ein Vater. „Die Eltern haben keinen Zugang zu den Lehrern, und die Lehrer sind Sklaven der Direktorin.“
Und der nationalpatriotische Publizist Maxim Schewtschenko klagte auf Facebook, man habe das klassische russisch-sowjetische Schulsystem ruiniert und mit der Zweiklassenausbildung der USA auch blind die amerikanische „Tradition“blutiger Schulschießereien importiert. „Nach der Schließung sehr vieler Schulen sitzen in den Klassen ,für die kleinen Leute‘ 30 bis 40 Kinder, die in mehreren Schichten lernen. In dieser Situation ist es nicht zu vermeiden, dass soziale und seelische Komplexe und ihre haarsträubenden Ausbrüche zur russischen Alltäglichkeit werden.“
Die Staatsagentur TASS zählte seit 2018 sechs bewaffnete Amokläufe in Russlands Schulen, 22 Menschen starben, mehr als 70 wurden verletzt.
Als Galjawijew seine alte Schule zum letzten Mal betrat, hatte er ein Hatsan Escort PS in der Hand, ein halbautomatisches Jagdgewehr mit Schnellladesystem, laut dem Portal life.ru war der Glattläufer legal angemeldet. Präsident Wladimir Putin ordnete an, die Regeln zum Verkauf von Schusswaffen an Zivilisten zügig zu verschärfen.
In der Republik Tatarstan aber herrscht heute Staatstrauer.