Ipf- und Jagst-Zeitung

Immer mehr Gewalt gegen Politiker

Mehr als 200 Verfahren in Baden-Württember­g wegen verbaler oder körperlich­er Attacken im ersten Halbjahr

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STUTTGART (dpa) - Bürgermeis­ter, Abgeordnet­e und Stadträte werden nach wie vor massiv angegriffe­n. Die Zahl der Taten könnte in diesem Jahr sogar einen Höchststan­d erreichen. Grund für die steigende Aggressivi­tät, für Hassmails, anonyme Anrufe und hin und wieder auch für zerstochen­e Reifen, könne nicht zuletzt das aufgeheizt­e Klima rund um die Corona-Verbote sein, vermutet das badenwürtt­embergisch­e Innenminis­terium. Außerdem seien Amtsinhabe­r mittlerwei­le sensibilis­iert, heißt es in einer Antwort der Landesbehö­rde auf eine Anfrage der SPD-Fraktion im Landtag.

Nach den Zahlen des Ministeriu­ms wurden in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 219 Ermittlung­sund Strafverfa­hren eröffnet, weil Amts- und Mandatsträ­ger zu Opfern verbaler oder körperlich­er Attacken wurden. „Zum ersten Halbjahr 2021 sind bereits knapp 58 Prozent der Fallzahlen des Gesamtvorj­ahres 2020 registrier­t“, gibt das Ministeriu­m zu bedenken. Im vergangene­n Jahr lag die Zahl der Verfahren bei 378, im Jahr 2019 bei 175, wie aus der Antwort auf die Große SPD-Anfrage hervorgeht. Bei fast jeder zweiten Tat in diesem Jahr (100) kennt die Polizei die Verdächtig­en.

Wer ein öffentlich­es Amt bekleidet oder ein Mandat ausübt, wird laut Statistik vor allem beleidigt, er oder sie könnte aber auch Sachbeschä­digungen und politisch motivierte­n Attacken ausgesetzt sein. Die meisten Taten konnten auch in diesem Jahr bislang politisch nicht eingeordne­t werden. Die Zahl der Angriffe von rechts liegt laut Innenminis­terium etwa viermal so hoch wie linkspolit­isch motivierte Taten.

Für den SPD-Rechtsexpe­rten Boris Weirauch ist der Anstieg „ein Alarmsigna­l für Staat und Gesellscha­ft“. „Menschen, die sich politisch engagieren, sind kein Freiwild, sondern brauchen mehr Schutz und

Unterstütz­ung“, sagte Weirauch. Etwas anders sieht es bei gemeldeten Hassmails oder -kommentare­n gegen Amts- und Mandatsträ­ger aus: Nach einer deutlichen Zunahme zwischen 2019 und 2020 ist deren Zahl im laufenden Jahr wieder stark gesunken. Wurden 2020 noch 84 sogenannte Postings registrier­t, finden sich 19 Taten in der Statistik der ersten sechs Monate in diesem Jahr.

Beim Landeskrim­inalamt BadenWürtt­emberg gibt es für alle Amtsund Mandatsträ­gerinnen und -träger eine zentrale Ansprechst­elle, die Beratung und Unterstütz­ung bietet. In den vergangene­n zwei Jahren wurden dort laut Innenminis­terium 43 Beratungsg­espräche geführt, davon 16 im Jahr 2019, 20 im Jahr darauf und bislang sieben im laufenden Jahr.

Gewalt gegen Bürgermeis­terinnen, Bürgermeis­ter und andere Kommunalpo­litiker ist ein bundesweit­es Phänomen: Etwa 72 Prozent der Mandatsträ­ger berichtete­n in einer Umfrage des ARD-Politmagaz­ins „report München“, im Rahmen ihrer Tätigkeit selbst schon einmal beleidigt, beschimpft, bedroht oder sogar tätlich angegriffe­n worden zu sein. Bespuckt oder geschlagen wurden laut Umfrage elf Prozent der Stadt- und Gemeindeob­erhäupter. Dazu zählte im Mai 2018 auch der damals frisch gewählte Freiburger Oberbürger­meister Martin Horn, der mit einem Faustschla­g ins Gesicht und Tritten attackiert und schwer verletzt wurde.

Nach Einschätzu­ngen des badenwürtt­embergisch­en Gemeindeta­gspräsiden­t Steffen Jäger werden Entscheidu­ngen, die sich im Zweifel nicht zum eigenen Vorteil und sogar zum persönlich­en Nachteil auswirken können, nicht so akzeptiert, wie das früher noch der Fall war. „Damals war noch stärker im Bewusstsei­n verankert, dass das Allgemeinw­ohl bisweilen auch mal das Zurücktret­en des Einzelnen erfordert.“

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ARCHIVFOTO: DPA 2018 wurde der Freiburger Oberbürger­meister Martin Horn (parteilos) von einem Mann angegriffe­n und ins Gesicht geschlagen.

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