US-Abtreibungsgesetze auf dem Prüfstand
Die strengen Regelungen in Texas beschäftigen den Supreme Court – Richterin sieht Grundrechte in Gefahr
WASHINGTON - Die Mühlen vor dem obersten Gericht der USA mahlen gewöhnlich langsam. Umso mehr ließ aufhorchen, dass die neun Richter im Eilverfahren eine Anhörung zu dem strengsten Abtreibungsrecht der USA im US-Bundesstaat Texas ansetzten. Zwischen der Anfechtung des Gesetzes und der Verhandlung vergingen nicht einmal zwei Wochen. Das strittige Gesetz des Gliedstaates verbietet Schwangerschaftsabbrüche ab der sechsten Woche nach der Empfängnis, wenn Frauen oft noch nicht wissen, dass sie schwanger sind. Ausnahmen für Vergewaltigung und Inzest sieht das Gesetz nicht vor. Experten machen darauf aufmerksam, dass der Supreme Court sich in diesem Fall weniger für den Inhalt des texanischen Gesetzes interessiert als für dessen Design. Darauf deuteten bei der Anhörung am Montag auch die skeptischen Fragen zweier konservativer Richter hin, die als Hardliner in der Abtreibungsfrage gelten. Brett Kavanaugh äußerte Bedenken, dass Texas ein „Schlupfloch“ausgenutzt haben könnte, das in der Konsequenz auch andere durch die Verfassung garantierte Rechte infrage stellen könnte. Um eine rechtliche Überprüfung durch Bundesgerichte zu umgehen, hatte Texas sein Abtreibungsrecht so gestaltet, dass es nicht von staatlichen Institutionen, sondern von Privatpersonen durchgesetzt wird. Und zwar auf dem Weg der Zivilklage. Die konservative Richterin Amy Coney Barrett
und Chefrichter John Roberts schienen bei der Anhörung die Bedenken Kavanaughs ebenso zu teilen wie die drei liberalen Kollegen am Supreme Court. Elena Kagan brachte die Sorge des Gerichts auf den Punkt, als sie darauf hinwies, dass alle 50 Bundesstaaten die Struktur des Gesetzes kopieren könnten, um an der Verfassung vorbei ohne gerichtliche Überprüfung Grundrechte auszuhebeln. „Waffen, gleichgeschlechtliche Ehe, Religionsfreiheit, was immer ihnen gerade nicht gefällt.“Analysten erwarten, dass der Supreme Court eine gerichtliche Überprüfung des texanischen Abtreibungsrechts erlauben wird. Für Juristen steht außer Frage, dass dieses Gesetz nach geltender Rechtslage in Folge des Grundsatzurteils „Roe V. Wade“aus dem Jahr 1973 keinen Bestand haben kann. Es sei denn, der Supreme Court setzte einen neuen Standard. Das könnte das Gericht in dem zweiten Fall tun, der Anfang Dezember verhandelt wird. Dabei geht es um das Abtreibungsrecht von Mississippi, das Schwangerschaftsabbrüche ab der 15. Woche verbietet. Falls die konservative „Sechs zu drei"-Mehrheit des obersten Gerichts die Klage zurückwiese und weitere Einschränkungen erlaubte, wäre „Roe v. Wade“praktisch ausgehebelt. Dann hätten die Regierungen in den Bundesstaaten die Möglichkeit, mehr oder weniger strenge Gesetze zu erlassen. So könnte eine modifizierte Version des texanischen Abtreibungsrechts, in dem der Staat und nicht Privatpersonen Verstöße ahnden, Bestand haben.