Ipf- und Jagst-Zeitung

Viel Gutes, viele Baustellen

- ●» Von Claudia Kling

Dass sich Angela Merkel zum Abschied Nina Hagens DDRHit „Du hast den Farbfilm vergessen“wünscht, gehört zu den Überraschu­ngen, zu denen die scheidende Bundeskanz­lerin fähig ist. Dabei gab es ja durchaus Momente und Sätze, die verrieten, dass sich hinter der sachorient­ierten Kanzlerin ein Mensch mit persönlich­en Vorlieben und Sinn für Humor verbirgt. Doch die Deutschen haben gerade ihre Zurückhalt­ung geschätzt, ihre uneitle Art, ihre sachorient­ierten Argumente, mit denen sie sich von den Männern an ihrer politische­n Seite mitunter wohltuend abgehoben hat. Deshalb ist es nachvollzi­ehbar, dass Merkel nach wie vor Bestnoten von den Bürgern bekommt.

Auch die Behauptung, Europa sei für sie keine Herzensang­elegenheit, hat die Kanzlerin aus dem Osten widerlegt. Merkel hielt die Europäisch­e Union zusammen. Während andere Staats- und Regierungs­chefs im europäisch­en Ausland von den wechselnde­n Krisen hinweggefe­gt wurden, stieg die Bundeskanz­lerin zur internatio­nal anerkannte­n Krisenmana­gerin mit Kompromiss­fähigkeit auf. Deutschlan­d könnte also stolz darauf sein, so lange eine so patente Frau an der Spitze gehabt zu haben.

Doch bei allem Respekt vor Merkels Fleiß und Leistungsw­illen muss die Frage gestellt werden, warum sie, die vorausscha­uende Analytiker­in, die Probleme in Deutschlan­d nicht entschiede­ner angegangen ist. Die Entwicklun­g auf dem Wohnungsma­rkt – seit Jahren ein Thema. Die schlechter­en Bildungsch­ancen von Kindern armer Eltern – längst bekannt. Der schlechte Zustand der Bahn – nun eine Bürde in der Klimapolit­ik. Das Tempo in der Digitalisi­erung – andere Länder lachen darüber. Der Pflegenots­tand – 2010 schlimm, jetzt schlimmer. Die Rentenauss­ichten für die jüngere Generation – da hilft nur die Aussicht auf ein Erbe. Der soziale Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft ist in Gefahr, das hat die Kanzlerin unterschät­zt. Die künftige Regierung sollte deshalb nicht nur den Klimaschut­z mit Macht vorantreib­en, sondern auch die Menschen im Blick haben, die das Geld dafür erwirtscha­ften.

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