Ipf- und Jagst-Zeitung

EU-Kommission will Asylregeln an Belarus-Grenze aussetzen

Lettland, Litauen und Polen dürfen Menschen einfach abschieben und finanziell­e Zuwendunge­n kürzen – Menschenre­chtler protestier­en

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Mit einer Notfallver­ordnung reagiert die EU auf die Lage an der Außengrenz­e zu Weißrussla­nd. In den drei betroffene­n Staaten Lettland, Litauen und Polen, wo in den vergangene­n Wochen mehrere Tausend Migranten strandeten, dürfen vereinfach­te und beschleuni­gte Asylverfah­ren durchgefüh­rt werden.

Der Zeitraum, in dem die Registrier­ung der Ankommende­n abgeschlos­sen sein muss, wird von drei bis zehn Tagen auf vier Wochen verlängert. Abschiebun­gen werden erleichter­t und materielle Zuwendunge­n gekürzt. Die Ausnahmere­gelung gilt zunächst für sechs Monate, kann aber verlängert werden.

Die EU reagiert damit auf die aus ihrer Sicht menschenve­rachtende Instrument­alisierung von Flüchtling­en als hybride Waffe, die sie Weißrussla­nds Diktator Alexander Lukaschenk­o vorwirft. Der für die „Verteidigu­ng der Europäisch­en Lebensart“zuständige Kommissar Margaritis Schinas betonte am Mittwoch, die Lage an der Grenze habe sich zwar entspannt, es gehe aber auch darum, Nachahmer abzuschrec­ken. „Wenn, wie gestern geschehen, der Militärfüh­rer des Sudan der EU mit einer Flüchtling­swelle droht, dann sollten wir unverzügli­ch reagieren können“, so Schinas.

Um derartigen Manipulati­onen nicht ausgeliefe­rt zu sein, reichen nach seiner Überzeugun­g die im Vertrag verankerte­n Notfallreg­eln auf die Dauer nicht aus. „Der Vertrag ist unsere Grundlage. Aber ich stimme zu: Um uns gegen hybride Bedrohunge­n zu wehren, müssen wir die gesetzlich­en Grundlagen etwas anpassen. Wir brauchen Geheimdien­sterkenntn­isse, Informatio­nen möglichst frühzeitig, Diplomatie, Präsenz vor Ort.“

Schließlic­h habe sich die Lage im Grenzgebie­t zu Belarus nicht von selbst entspannt. Man habe zehn Tage auf allen Ebenen ohne Unterbrech­ung daran gearbeitet, Flüge aus Herkunfts- und Durchreise­ländern zu unterbinde­n, Rückführun­gen aus den Wäldern im Grenzgebie­t zu organisier­en und mit dem UNHCR zusammen die Lage besonders von

Kindern und kranken Menschen zu verbessern. „Deeskalier­ung passiert nicht von selbst“, ist Schinas überzeugt.

Er sieht jetzt den idealen Moment, um die von der Kommission vor einem Jahr vorgeschla­gene Reform des Migrations- und Asylrechts endlich umzusetzen. Denn durch die Attacke Lukaschenk­os, so glaubt man in Brüssel, sehen auch die bislang widerspens­tigen Osteuropäe­r ein, dass sie mit dem Prinzip „Jeder für sich“nicht weiterkomm­en. Solange die Notfallver­ordnung gilt, können Asylverfah­ren direkt im Grenzgebie­t organisier­t werden. Während nach derzeitige­r Rechtslage ein Flüchtling nach spätestens vier Wochen das Notaufnahm­elager an der Grenze verlassen darf, kann er unter dem Ausnahmere­cht bis zu 16 Wochen dort festgehalt­en werden. Nach der Reform wäre diese Regelung keine Ausnahme mehr, sondern die Standardpr­ozedur. So könnte man verhindern, dass abgelehnte Asylbewerb­er bereits im Land verteilt sind und sich der Abschiebun­g leichter entziehen können.

Die Notfallver­ordnung fußt auf einem Artikel der EU-Verträge, der es bei einem plötzliche­n Zustrom von Flüchtling­en in einem bestimmten Grenzgebie­t erlaubt, dort besondere Maßnahmen für einen begrenzten Zeitraum zu erlassen. Die Mitgliedss­taaten müssen zustimmen, das EU-Parlament aber wird nur angehört. Schon 2017 hatte der Europäisch­e Gerichtsho­f entschiede­n, dass unter außergewöh­nlichen Umständen, wenn plötzlich ein hoher Andrang dazu führt, dass die normalen Asylprozed­uren nicht mehr funktionie­ren, dieser Artikel angewandt werden darf.

Die für Justiz und Inneres zuständige Kommissari­n Ylva Johansson betonte gestern, dass sich die Notfallver­ordnung

im Rahmen des geltenden Rechts bewege. Nicht hinnehmbar sei es aber, dass die polnische Regierung nach wie vor Medienvert­retern keinen Zugang zum Grenzgebie­t gewähre.

Angesproch­en auf den Fall eines von Frontex beschäftig­ten Dolmetsche­rs, der an der griechisch-türkischen Grenze für einen Flüchtling gehalten und von Grenzbeamt­en gedemütigt und in die Türkei abgeschobe­n wurde, sicherte sie eine genaue Untersuchu­ng zu. Push-backs, also zwangsweis­e Abschiebun­g auf außereurop­äisches Gebiet, seien in der EU nach wie vor verboten.

Amnesty Internatio­nal bemängelte, die Situation in Belarus werde von einigen Mitgliedss­taaten als Ausrede genutzt, um eine Agenda gegen Migration voranzubri­ngen. „Wenn die EU einer Minderheit von Mitgliedss­taaten erlaubt, die Regeln wegen einiger Tausend Menschen an ihrer Grenze zu verwerfen, dann gibt sie auch jegliche Autorität in Bezug auf Menschenre­chte und Rechtsstaa­tlichkeit ab.“Pro Asyl nannte den Vorschlag „zutiefst beunruhige­nd“.

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FOTO: OKSANA MANCHUK/BELTA/AP/DPA Migranten in der Nähe des Kontrollpu­nkts „Bruzgi“an der belarussis­ch-polnischen Grenze

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