EU-Kommission will Asylregeln an Belarus-Grenze aussetzen
Lettland, Litauen und Polen dürfen Menschen einfach abschieben und finanzielle Zuwendungen kürzen – Menschenrechtler protestieren
BRÜSSEL - Mit einer Notfallverordnung reagiert die EU auf die Lage an der Außengrenze zu Weißrussland. In den drei betroffenen Staaten Lettland, Litauen und Polen, wo in den vergangenen Wochen mehrere Tausend Migranten strandeten, dürfen vereinfachte und beschleunigte Asylverfahren durchgeführt werden.
Der Zeitraum, in dem die Registrierung der Ankommenden abgeschlossen sein muss, wird von drei bis zehn Tagen auf vier Wochen verlängert. Abschiebungen werden erleichtert und materielle Zuwendungen gekürzt. Die Ausnahmeregelung gilt zunächst für sechs Monate, kann aber verlängert werden.
Die EU reagiert damit auf die aus ihrer Sicht menschenverachtende Instrumentalisierung von Flüchtlingen als hybride Waffe, die sie Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko vorwirft. Der für die „Verteidigung der Europäischen Lebensart“zuständige Kommissar Margaritis Schinas betonte am Mittwoch, die Lage an der Grenze habe sich zwar entspannt, es gehe aber auch darum, Nachahmer abzuschrecken. „Wenn, wie gestern geschehen, der Militärführer des Sudan der EU mit einer Flüchtlingswelle droht, dann sollten wir unverzüglich reagieren können“, so Schinas.
Um derartigen Manipulationen nicht ausgeliefert zu sein, reichen nach seiner Überzeugung die im Vertrag verankerten Notfallregeln auf die Dauer nicht aus. „Der Vertrag ist unsere Grundlage. Aber ich stimme zu: Um uns gegen hybride Bedrohungen zu wehren, müssen wir die gesetzlichen Grundlagen etwas anpassen. Wir brauchen Geheimdiensterkenntnisse, Informationen möglichst frühzeitig, Diplomatie, Präsenz vor Ort.“
Schließlich habe sich die Lage im Grenzgebiet zu Belarus nicht von selbst entspannt. Man habe zehn Tage auf allen Ebenen ohne Unterbrechung daran gearbeitet, Flüge aus Herkunfts- und Durchreiseländern zu unterbinden, Rückführungen aus den Wäldern im Grenzgebiet zu organisieren und mit dem UNHCR zusammen die Lage besonders von
Kindern und kranken Menschen zu verbessern. „Deeskalierung passiert nicht von selbst“, ist Schinas überzeugt.
Er sieht jetzt den idealen Moment, um die von der Kommission vor einem Jahr vorgeschlagene Reform des Migrations- und Asylrechts endlich umzusetzen. Denn durch die Attacke Lukaschenkos, so glaubt man in Brüssel, sehen auch die bislang widerspenstigen Osteuropäer ein, dass sie mit dem Prinzip „Jeder für sich“nicht weiterkommen. Solange die Notfallverordnung gilt, können Asylverfahren direkt im Grenzgebiet organisiert werden. Während nach derzeitiger Rechtslage ein Flüchtling nach spätestens vier Wochen das Notaufnahmelager an der Grenze verlassen darf, kann er unter dem Ausnahmerecht bis zu 16 Wochen dort festgehalten werden. Nach der Reform wäre diese Regelung keine Ausnahme mehr, sondern die Standardprozedur. So könnte man verhindern, dass abgelehnte Asylbewerber bereits im Land verteilt sind und sich der Abschiebung leichter entziehen können.
Die Notfallverordnung fußt auf einem Artikel der EU-Verträge, der es bei einem plötzlichen Zustrom von Flüchtlingen in einem bestimmten Grenzgebiet erlaubt, dort besondere Maßnahmen für einen begrenzten Zeitraum zu erlassen. Die Mitgliedsstaaten müssen zustimmen, das EU-Parlament aber wird nur angehört. Schon 2017 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass unter außergewöhnlichen Umständen, wenn plötzlich ein hoher Andrang dazu führt, dass die normalen Asylprozeduren nicht mehr funktionieren, dieser Artikel angewandt werden darf.
Die für Justiz und Inneres zuständige Kommissarin Ylva Johansson betonte gestern, dass sich die Notfallverordnung
im Rahmen des geltenden Rechts bewege. Nicht hinnehmbar sei es aber, dass die polnische Regierung nach wie vor Medienvertretern keinen Zugang zum Grenzgebiet gewähre.
Angesprochen auf den Fall eines von Frontex beschäftigten Dolmetschers, der an der griechisch-türkischen Grenze für einen Flüchtling gehalten und von Grenzbeamten gedemütigt und in die Türkei abgeschoben wurde, sicherte sie eine genaue Untersuchung zu. Push-backs, also zwangsweise Abschiebung auf außereuropäisches Gebiet, seien in der EU nach wie vor verboten.
Amnesty International bemängelte, die Situation in Belarus werde von einigen Mitgliedsstaaten als Ausrede genutzt, um eine Agenda gegen Migration voranzubringen. „Wenn die EU einer Minderheit von Mitgliedsstaaten erlaubt, die Regeln wegen einiger Tausend Menschen an ihrer Grenze zu verwerfen, dann gibt sie auch jegliche Autorität in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ab.“Pro Asyl nannte den Vorschlag „zutiefst beunruhigend“.