„Haaland ist der Lokführer in seinem Team“
Jürgen Kohler, der für Dortmund und Bayern verteidigt hat, vergleicht deren Torjäger
MÜNCHEN - Hungriger Herausforderer gegen unersättlichen Fast-Alles-Gewinner – neue Stabilität und die Rückkehr des genesenen und sogleich wieder treffsicheren Erling Haaland machen Borussia Dortmund Mut für einen Coup gegen Tabellenführer Bayern München. „Ich glaube, dass wir bereit sind“, sagt BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke vor dem Bundesliga-Gipfel der Fußballgiganten am Samstag (18.30 Uhr/Sky). Ob das reicht gegen Robert Lewandowski und Kollegen? Einer, der für beide Topclubs auflief, ist 1990er-Weltmeister Jürgen Kohler. Patrick Strasser hat mit dem 56-jährigen gesprochen.
Herr Kohler, als Innenverteidiger haben Sie in den 1980er- und 90erJahren – damals nannte man das Aufgabenprofil Vorstopper beziehungsweise Manndecker – den Stürmern das Fürchten gelehrt. Wie würden Sie heute Mittelstürmer-Granden wie Robert Lewandowski oder Erling Haaland begegnen? Mit Respekt?
Mit Freude! Gegen diese Stürmertypen hätte ich sehr gerne gespielt, sie hätten mir gut gelegen. Bei aller Qualität und individueller Klasse – auch die beiden sind für einen Verteidiger lesbar. Du musst dir eben einen genauen Plan zurechtlegen.
Na, wenn es nur das ist ... Im Ernst: Bayerns Lewandowski hat den Goldenen Schuh gewonnen, wurde Zweiter bei der Wahl zum Weltfußballer. Der Dortmunder Haaland hat in seinen ersten 50 Bundesligaspielen 50 Tore erzielt, in 18 Champions-League-Partien
Und dennoch kann man sie ausschalten. Wichtig ist das vorherige, genaue Studium ihres Spiels: Wie bewegt sich der Stürmer, wie dreht er sich auf, wenn er den Ball bekommt? Da geht es um Kleinigkeiten: Welche Schulter ist vorne, welche weggedreht? Und: Wie wird er am liebsten angespielt? Was mögen sie, was nicht? Im Idealfall stehst du als Abwehrspieler bereits im Passweg, wenn das Zuspiel kommt. Oder man stellt den Laufweg zu, bevor sie in die Tiefe starten. Man muss einen guten Mix finden, den nötigen Abstand zu halten, aber doch nicht zu weit weg zu sein, falls sie in Fahrt kommen. Wenn ein Verteidiger nur noch reagieren kann, ist es zu spät. Aktiv sein! Agieren! Man muss ihnen frühzeitig im Spiel den Zahn ziehen, die Lust nehmen. 21-mal getroffen.
Was unterscheidet Lewandowski von Haaland – abgesehen von den zwölf Jahren Altersunterschied und ihren jeweiligen Zulieferern im Team?
Punkt eins sprechen Sie bereits an: die Erfahrung. Lewandowski weiß, was er beim Abschluss zu tun hat. Außerdem ist er der komplettere Fußballer. Haaland ist großgewachsen und wuchtig, unheimlich schnell und dynamisch. Diese Konstellation ist relativ selten bei einem Mittelstürmer – faszinierend! Für mich gehört Haaland mit erst 21 mittlerweile zu den Top-Vier oder -Fünf der Mittelstürmer in Europa – in der Kategorie ist Lewandowski schon seit Jahren. Auch ein Unterschied. Dazu spielen die jeweiligen Mannschaftskollegen eine Rolle.
Wie meinen Sie das?
Beim BVB ist Haaland der einzige Unterschiedspieler, der seiner Mannschaft ein Spiel in den entscheidenden Momenten gewinnen kann. Die Bayern haben mit Lewandowski und Torhüter Manuel Neuer zwei dieser Kategorie. Sie sind nicht so abhängig von Lewandowski.
Wie abhängig der BVB von Haaland ist, hat man in den Wochen seiner Verletzungspause deutlich erkennen können.
Er ist einfach ein Typ, kommt bei Mitspielern und Fans gut an. Mit seiner Körpersprache zeigte er: Ich hasse es, zu verlieren. Er ist der Lokführer in seinem Team, der die anderen mitzieht.
Haben die Schwächen?
Lewandowski ist kein Künstler in den Eins-gegen-eins-Situationen, hat dennoch das bessere Dribbling als Haaland. Und er macht die bessere Vorbewegung, schon vor dem ersten Ballkontakt. Haaland dagegen ist dann, wenn er mal den Ball hat, kaum
beiden
überhaupt zu halten. Sein Spiel ist es, mit Tempo aus der Tiefe zu kommen. Was ihn etwas einschränkt: Er hat nur den einen, seinen linken Fuß – da ist Lewandowski besser aufgestellt.
Wie sehen Sie die Zukunft der beiden? Kann der BVB Haaland trotz des Vertrages bis 2024 halten – vor allem, da für kommenden Sommer eine vorzeitige Ausstiegsklausel greift?
Einer wie Haaland will Titel gewinnen, und womöglich sieht er dafür woanders größere Chancen. Es müsste aus meiner Sicht schon sehr viel zusammenkommen, dass er bleibt, etwa der Meistertitel mit dem BVB. Er wird Angebote noch und nöcher haben und viel mehr verdienen können. An seiner Stelle würde ich nicht unbedingt nach Spanien gehen, die Premier League dürfte sein Ziel sein.
Und was raten Sie Lewandowski, dessen Vertrag bei Bayern 2023 endet? Noch mal verlängern?
Das ist eine schwierige Entscheidung, weil er sich mit dann 35 Jahren womöglich den Karrieretraum erfüllt, für zwei Jahre nach Spanien zu wechseln. Aber wohin? Der FC Barcelona ist hoch verschuldet, bei Real Madrid spielt Karim Benzema (mit Vertrag bis 2023, d. Red.) – da scheint der Weg verbaut.
Außerdem will Real unbedingt Kylian Mbappé von Paris St. Germain nächsten Sommer verpflichten. Dann wird’s schwer für Lewandowski. Er hat mit Bayern einen der Topclubs weltweit, könnte noch mehr Rekorde brechen und Titel holen. Ich glaube, dass er in München bleibt und verlängert.