Absturz des Überfliegers
Österreichs Ex-Bundeskanzler Kurz zieht sich von allen politischen Ämtern zurück
WIEN - „Es war mir eine große Ehre, der Republik zehn Jahre dienen zu dürfen“, sagt Sebastian Kurz abschließend. Und auf eine Nachfrage fügt der österreichische Ex-Bundeskanzler noch hinzu: „Ich werde jetzt aufbrechen, um meinen Sohn und meine Frau aus dem Spital abzuholen.“Kurz ist in diesen Tagen erstmals Vater geworden. Er verlässt das „Springer-Schlössl“, wo die Politische Akademie der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ihren Sitz hat. Ein großes Kapitel in der Politik der Alpenrepublik ist beendet, ein Hoffnungsträger – gerade mal 35 Jahre alt – hat sein Licht ausgeknipst.
Sebastian Kurz ist von allen politischen Ämtern zurückgetreten. Nachdem er im Oktober schon auf das Kanzleramt verzichtete, gibt er nun auch als Parteiobmann und als Klubobmann im Parlament auf – also als Partei- und Fraktionsvorsitzender. Er hält eine 20-minütige Rede voller gefühlvoller Worte, nennt sich „glücklich“und „dankbar“für eine „wunderschöne Zeit“. Sein Team und er hätten „Höchstleistungen“vollbracht, allerdings sei mit der „Abwehr von Vorwürfen und Anschuldigungen“auch die „Begeisterung ein bisschen weniger geworden“. Auffällig an Kurz' Auftritt ist die Diskrepanz zwischen seinen rührenden Worten und seiner souveränen, teils kühlen Rhetorik. Emotion ist da nicht rauszuhören.
Im Zentrum der sogenannten „Anzeigenaffäre“, wegen der die Staatsanwaltschaft ermittelt, steht der Vorwurf der Korruption. Tausende Chat-Nachrichten zwischen Kurz und seinem Umfeld begründeten im Oktober den Verdacht, dass der Kanzler sich in der Vergangenheit sich durch Anzeigen in der Zeitung „Österreich“eine für ihn positive Berichterstattung erkauft hat.
Die Anzeigen wurden wiederum nicht von der Partei ÖVP, sondern vom Finanzministerium geschaltet, also bezahlt mit Steuergeldern. Zudem soll die Meinungsforscherin Sabine Beinschab gegen Extra-Honorierung Umfragedaten so frisiert haben, dass sie Kurz nutzten. Ziel der Aktionen soll es gewesen sein, Kurz in den Parteivorsitz und später ins Kanzleramt zu bringen. Kommt es zu einem Prozess, würde sich dieser über Jahre hinziehen.
„Das war der letzte Exit für ihn“, sagt die Wiener Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl gegenüber dieser Zeitung. „Er hat seinen Sohn als Begründung genommen und versucht, einen noch einigermaßen gesichtswahrenden Abgang zu machen.“Sie vermutet aber, wovon in Wien viele Beobachter ausgehen: Dass es weitere Chats im einstigen Kurz-Dunstkreis gibt, mit denen sich bisher noch unbekannte Verfehlungen belegen. „Die Schlinge wird sich weiter zuziehen“, meint Strobl.
Sebastian Kurz war zehn Jahre lang in der Politik. Er ist aufgestiegen zum jungen Vertreter eines auf seine Person konzentrierten neuen Konservativismus, den manche als populär, andere als populistisch beschreiben. Er gab eine Art Saubermann, der einerseits in der Flüchtlingspolitik durchgreift und andererseits den normalen Bürgern neue Chancen gibt. Zuerst regierte er mit der rechtspopulistischen FPÖ, diese wurde von Kurz aber wegen der Ibiza-Videoaffäre um den damaligen Parteivorsitzenden Karl-Heinz Strache rausgeworfen.
Nach einem großen Wahlsieg in einem ganz auf seine Person zugeschnittenen Wahlkampf ging Kurz ein Bündnis mit den Grünen ein, das sein Interims-Nachfolger Alexander
Schallenberg bis jetzt weiterführt. Hauptaufgabe der Regierung ist derzeit die Bekämpfung der CoronaPandemie, die Österreich weiterhin schwer belastet mit hohen Infektionszahlen und voll belegten Intensivstationen.
Eigentlich war es im Oktober das Kalkül von Kurz, zwar das Kanzleramt aufzugeben, aber weiterhin als mächtigste Person der ÖVP die Regierungsgeschicke aus dem Hintergrund zu lenken. In seiner Erklärung sagt er nun: „Die Geburt des eigenen Kindes toppt alles.“Er wolle sich nun bis ins neue Jahr der Familie widmen.
Eine gewisse Einsicht in ein Fehlverhalten in der Anzeigen-Affäre lässt Sebastian Kurz aber nicht erkennen. Er sagt lediglich: „Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher, ich bin ein Mensch.“Er freue sich auf den Tag, an dem bewiesen werde, dass die gegen ihn gerichteten Vorwürfe falsch seien.
Es wird vermutet, dass die Staatsanwaltschaft momentan die Demoskopin Beinschab als Kronzeugin der Anklage aufbaut. Sie saß zwei Tage in
Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr und wurde dann wieder antlassen. Ihr würde Strafmilderung in Aussicht gestellt, wenn sie umfassend aussagt und dabei auch neue Sachverhalte aufdeckt. All dies ließ die Position von Kurz als weiterhin aktiver Spitzenpolitiker immer unhaltbarer werden. Aufgrund seiner guten Vernetzung dürfte es ihm keine Probleme bereiten, künftig in der Wirtschaft einen hohen Job zu erhalten.
In der ÖVP, die nun vor den KurzTrümmern steht, läuft alles auf den jetzigen Bundesinnenminister Karl Nehammer als neuen starken Mann hinaus.
Alexander Schallenberg, der über einen Sprecher am Donnerstag ebenfalls seinen Rückzug ankündigte, galt von vorneherein als Übergangskanzler. Es wird vermutet, dass Nehammer sowohl Parteivorsitzender als auch Kanzler wird. Dazu wollen die ÖVP-Gremien demnächst tagen. Ob es zu Neuwahlen kommt, ist unklar. Strategisch hat gerade keine Partei ein Interesse daran.