Freiwillige zwischen Frust und Lust
Baden-Württemberg ist das Land des Ehrenamts. 4,5 Millionen Menschen engagieren sich in Vereinen, Organisationen und Initiativen. Sie trotzen den Herausforderungen der Pandemie – zumindest noch.
WEINGARTEN - Auf dem Tisch liegen 15 kleine Papiertüten, verziert mit goldenen Sternchen und selbst gebastelten Engeln. Was fehlt, ist der Geruch von Glühwein und Zimtsternen sowie der Klang weihnachtlicher Musik, die ab und an von einem fröhlichen Lachen durchbrochen werden könnte. Die geplante Weihnachtfeier fällt erneut kurzfristig aus. Was bleibt, sind die Tütchen als kleines Dankeschön für die erbrachten Leistungen in diesem herausfordernden Jahr der Corona-Krise. „Es tut sehr weh“, sagt Sieglinde Zimmer-Meyer über den Ausfall der Weihnachtsfeier der Weingartener Initiative Bürger in Kontakt. „Dann machen wir eben ein Frühlingsfest“, schlägt Enrico Nicoletti vor – „Gute Idee.“
Es sind nur zehn Sekunden, die klarmachen, dass sich ehrenamtliches Engagement nicht durch die pandemiebedingten Einschränkungen ausbremsen lässt. „Wir haben immer versucht, alles möglich zu machen, was irgendwie geht“, sagt Zimmer-Meyer in der kleinen Runde im Büro der Initiative, die seit mehr als 20 Jahren verschiedene Projekte in Weingarten realisiert. 30 Ehrenamtliche, die sich als Bikler bezeichnen, engagieren sich bei Bürger in Kontakt, kurz Bik und organisieren unter anderem Kleinhandwerkerdienste für zu Hause, Besuche in Altenheimen oder die Neubürgerbegrüßung. Hinzu kommen weitere 20 bis 30 Menschen, die sich als Paten für ein Stück Weingarten freiwillig um die Sauberkeit eines Teils ihrer Stadt kümmern.
„Baden-Württemberg lebt davon, dass sich die Menschen hier ehrenamtlich engagieren – und zwar so viel wie in keinem anderen Bundesland“, sagt Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) der „Schwäbischen Zeitung“. Am Sonntag steht der Internationale Tag des Ehrenamts an. Er findet jährlich am 5. Dezember statt und damit bereits zum zweiten Mal hintereinander mitten in einer Corona-Welle. Die vierte trifft derzeit die Krankenhäuser mit voller Wucht. Über einen weiteren Lockdown und Kontaktbeschränkungen wird seit Tagen offen diskutiert.
Die Pandemie setzt der freiwilligen Hilfe unfreiwillige Grenzen. Wer sich ehrenamtlich engagiert, tut das in Vereinen, Organisationen oder in Initiativen – in einer Gemeinschaft eben. So facettenreich das Ehrenamt ist, so etabliert ist es in Baden-Württemberg. Laut Sozialministerium sind etwa 4,5 Millionen Menschen über 14 Jahren im Land bürgerlich engagiert.
Seit 1999 erhebt das Deutsche Zentrum für Altersfragen alle fünf Jahre in einer Telefonumfrage Daten zum freiwilligen Engagement der Menschen in den Bundesländern. Die bisher letzte Umfrage fand 2019 vor dem Corona-Ausbruch statt. Ergebnis: Der Anteil der Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, ist in keinem anderen Bundesland so hoch wie in Baden-Württemberg. Mit 46,1 Prozent liegt der Südwesten deutlich vor dem zweitplatzierten SchleswigHolstein (42,6 Prozent) und mehr als fünf Prozentpunkte über dem Bundesschnitt.
Sportvereine gelten als eines der Paradebeispiele für ehrenamtliches Engagement. Gleichzeitig brachte die Pandemie Veranstaltungen ohne Zuschauer und Saisonabbrüche in vielen Sportarten mit sich. Laut Landessportverband Baden-Württemberg waren vor der 2020 etwa 250 000 Menschen dauerhaft ehrenamtlich in einem Sportverein aktiv. Hinzu kommen 900 000 freiwillige Helfer bei Veranstaltungen. „Diese Zahlen haben sich durch die Pandemie nicht signifikant verändert“, antwortet die Verbandsvorsitzende Elvira Menzer-Haasis auf Nachfrage. Eine Krise des Ehrenamts im Sport durch wegfallende Aktivitäten sieht sie nicht. Es gebe eher eine „Jetzt erst recht“- oder „Ich lasse meinen Verein nicht im Stich“-Mentalität.
Ein Blick auf die Mitgliederzahlen in den Sportvereinen Baden-Württembergs und Bayerns zeigt ein anderes Bild. Nach Angaben des bayerischen Landesamts für Statistik sank die Zahl der Mitglieder in Sportvereinen 2020 im Vergleich zum Vorjahr, also vor der Corona-Krise, um etwa 91 000 Menschen. Bei etwa 4,5 Millionen Mitgliedern ein Minus von fast zwei Prozent, das besonders deutlich bei den Kindern unter 14 Jahren ausfällt. Dort waren es 53 000 Jugendliche weniger. Das entspricht knapp fünf Prozent.
In Baden-Württemberg waren die Zahlen für das vergangene Jahr ähnlich. Knapp 100 000 weniger Mitglieder zählten die Sportvereine im Land, ein Großteil davon ebenfalls Kinder. Als die Zahlen im Juni veröffentlicht wurden, führte Elvira Menzer-Haasis diese Entwicklung auf fehlende Angebote für Jugendliche im Zuge der Einschränkungen zurück. Nun sind Mitglieder nicht gleich Ehrenamtliche, doch speziell mit Blick auf die Kinder sind es häufig die Ehrenamtlichen von morgen.
Vor den Vereinen liegt ein weiterer Kraftakt, die entstandene Lücke möglichst schnell zu schließen. „So sehr die Pandemie uns Distanz abverlangt hat: Wir brauchen den Gemeinschaftssinn, der unsere Sportvereine ausmacht“, sagt MenzerHaasis, die den Ehrenamtlichen großen Respekt zollt für ihre Anstrengungen in herausfordernden Zeiten. „Sie haben alles getan, dass ihre Mitglieder in Bewegung bleiben konnten, und haben darüber hinaus auch vielfältige Aufgaben wie Fahrdienste oder Nachbarschaftshilfe übernommen.“Mangelnde Motivation: Fehlanzeige.
Meist arbeiten Ehrenamtliche im Hintergrund, organisieren, machen Dinge möglich. So auch die Helfenden beim Deutschen Roten Kreuz, deren Arbeit durch Corona jedoch mehr denn je in den Vordergrund gerückt wurde. „Natürlich war es schwieriger, Angebote für Senioren zu machen. Für unsere Mithilfe beim Aufbau von Impf- und Teststationen im Land haben wir jedoch viele Leute gewinnen können“, sagt Jürgen Wiesbeck, Landesdirektor der Bereitschaften und beim DRK Baden-Württemberg für die Ehrenamtlichen zuständig.
Etwa 60 000 Menschen engagieren sich im Land in den verschiedenen Bereichen des DRK. „Bevor wir uns in Statistiken verrennen, glauben wir, dass nun erst die Herausforderungen der vierten Welle gemeinsam bewältigt werden müssen“, antwortet Wiesbeck auf die Frage, wie sich die Zahl der Ehrenamtlichen 2020 verändert hat.
„Die Herausforderungen der vergangenen Monate schweißen zusammen. Abseits der Pandemie sind wir auch der Landesverband, der die meisten Helfer ins Ahrtal zur Unterstützung geschickt hat“, sagt der DRK-Landesdirektor. In der Pandemie und in der Flutregion gebraucht zu werden, habe vor allem im Bevölkerungsschutz einen Schub gegeben. Dennoch sei die Pandemie mehr als fordernd gewesen, was die Einsätze und den digitalen Umbau angeht. „Jetzt sind die Krankenhäuser wieder unter Druck und so geht es auch unseren Ehrenamtlichen. Manche sind beruflich schon stark eingespannt und gehen über ihr Limit hinaus“, gibt Wiesbeck zu. Anfragen für Unterstützung kämen aktuell von überall. „Seniorenheime, Krankenhäuser, Impf- und Teststationen: Das fordert eine Menge an Kapazitäten.“ seit
Beim DRK-Ortsverein Weingarten bestätigt sich dieser überregionale Eindruck. „Ohne ehrenamtliches Engagement ist eine solche Krise nicht zu meistern. Wir sind besorgt, wie die Wochen bis Weihnachten laufen. Deshalb sind wir auf alles vorbereitet und stehen bereit, wenn man uns braucht“, sagt der Vorsitzende Georg Roth. Aufgehört habe in Weingarten niemand. „Ganz im Gegenteil erleben wir unsere Mitglieder nach wie vor motiviert“, bekräftigt Roth. Abseits von Diensten finde das gemeinsame Erleben nur digital statt. Mit persönlichen Treffen rechnet Roth laut eigener Aussage erst wieder im Frühjahr.
Ein großer Teilbereich des Ehrenamts, der von Zusammenkünften wie kaum ein anderer lebt, ist die Jugendarbeit. Digital wurde auch hier Trumpf und dennoch schmerzen die Absagen vieler Jugendfreizeiten sehr, wie der Vorsitzende des Christlichen
Vereins Junger Menschen (CVJM) Württemberg zugibt: „Viele Mitarbeiter hat das Gefühl sehr beschäftigt, für Kinder in prekären Situationen nicht ausreichend da sein zu können.“Samuel Hartmann ist sich noch nicht sicher, ob die gesundheitliche Krise auch zu einer des Ehrenamts geworden ist. „Ich beobachte einerseits, dass viele Menschen vielleicht gerade durch die Pandemie neu entdeckt haben, wie wichtig die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit in den CVJM sind“, sagt der evangelische Pfarrer. Andererseits spüre er, dass die Verantwortlichen müde werden. „Es ist einfach sehr frustrierend, wenn man sich immer wieder etwas Neues überlegt, das Angebot anpasst, Hygienekonzepte entwickelt und dann wird es nicht angenommen oder alles muss wieder abgesagt werden“, fügt Hartmann hinzu.
Sorgen und Frust zum Trotz lassen sich die Ehrenamtlichen im Land offenbar nicht unterkriegen. „Darauf bin ich sehr stolz, vor allem darauf, dass dieses Engagement in der Krise so robust ist. Denn das trägt uns jetzt durch die schwierigen Monate der Pandemie“, sagt Sozialminister Lucha. Weingartens Oberbürgermeister Markus Ewald bekräftigt: „Die vielfältige Arbeit unserer Engagierten ist unbezahlbar, und sie darf niemals selbstverständlich sein. Für den beispiellosen Einsatz von so vielen sage ich Danke – im Namen der Stadt, aber auch der gesamten Bürgerschaft.“
Ein Dankeschön, das unter anderem an die Bikler gerichtet ist, in deren Weihnachtstüten sich auch eine Überraschung der Stadt Weingarten befindet. Stellvertretend für viele Ehrenamtliche hofft die Initiative, bald wieder richtig durchstarten zu können. „Je länger diese Situation anhält, desto mehr wird sich verändern, desto mehr Menschen werden merken, dass es vielleicht auch ohne Ehrenamt geht“, befürchtet Margret Welsch. Deshalb liegt der Fokus bereits wieder voll auf dem Sommer. „Da haben wir keine Aufwärmphasen gebraucht. Es ging direkt wieder los und auch jetzt stehen wir alle wieder in den Startlöchern“, sagt Sieglinde Zimmer-Meyer. Die Absage der Weihnachtsfeier hat offensichtlich nur kurz die Stimmung gedrückt.