Ipf- und Jagst-Zeitung

Alte Baustelle, neue Bauarbeite­r

Die Ampel-Koalition will mehr Verkehr auf die Schiene bringen – Doch wie sich die Bahn ändern soll, ist unklar

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Im Bahntower ist das große Schweigen ausgebroch­en. Abwarten, was der neue Verkehrsmi­nister Volker Wissing von der FDP tatsächlic­h mit dem Konzern vor hat. Eigentlich sollte die Freude über die Absichten der Ampelkoali­tion groß sein. Die neue Regierung will den Schienenve­rkehr gegenüber der Straße deutlich bevorzugen. Mehr Geld wird künftig demnach für den Bahnverkeh­r als für den Straßenver­kehr ausgegeben. Auch dürfen Einnahmen aus der Lastwagen-Maut künftig in den Schienenve­rkehr fließen. Außerdem können die Länder auf steigende Zuschüsse für den Nahverkehr hoffen.

Wie ehrgeizig die Ziele sind, verdeutlic­ht nach Einschätzu­ng der Allianz pro Schiene eine kleine Veränderun­g in der Wortwahl. Die alte Regierung wollte bis Ende des Jahrzehnts die Fahrgastza­hlen verdoppeln. Die neue spricht nun von einer verdoppelt­en Verkehrsle­istung – also einer der Verdopplun­g der gefahrenen Streckenlä­nge. Mit dem neuen Ziel müsse sich das Wachstumst­empo der Branche versechsfa­chen, rechnet der Verband vor. Allerdings sieht er im Koalitions­vertrag zu wenige Hinweise, wie dieses Ziel erreicht werden kann. „Der neue Verkehrsmi­nister muss schnell für Klarheit sorgen, wie er Anspruch und Realität in Einklang bringen will“, fordert Verbandsch­ef Dirk Flege.

Für große Freude bei den privaten Bahnen sorgte anfangs ein anderes Ziel. Die Koalition will tief in die Struktur des Bahnkonzer­ns eingreifen und die beiden wesentlich­en Teile, die Infrastruk­tur und den Betrieb, voneinande­r trennen. Dazu sollen das Netz, die Stationen und der Service in einer Sparte vereint werden und künftig gemeinwohl­orientiert arbeiten. Die Deutsche Bahn bleibt zwar Eigentümer der Gesellscha­ft, darf deren satte Gewinne aber nicht mehr in die Konzernkas­se leiten. Diese bleiben bei der Infrastruk­tur. Möglicherw­eise leitet die neue Regierung damit eine langfristi­g tiefer greifende Reform ein. FDP und Grüne fordern die vollständi­ge Trennung von Netz und Betrieb schon lange, SPD und Bahnvorsta­nd sind strikt dagegen. Nun scheint eine Zwischenlö­sung geplant zu sein.

Die Wettbewerb­er der Bahn erhofften sich anfangs durch die neue Struktur niedrigere Trassenpre­ise, wenn das Netz keine Gewinne mehr an den Konzern abführen muss. Doch inzwischen hat eine gewisse Ernüchteru­ng eingesetzt. Denn Gewinne

solle auch eine gemeinwohl­orientiert­e Netzgesell­schaft erzielen, kritisiert das Netzwerk Europäisch­er Eisenbahne­n (NEE). „Dieser Widerspruc­h machte uns sofort misstrauis­ch“, erläutert NEE-Chef Ludolf Kerkeling. Das Netz sei bei der Bahn nicht gut aufgehoben. Das bestätigt seiner Ansicht nach auch ein Bericht des Bundesrech­nungshofes,

der eine Quersubven­tionierung defizitäre­r Bahnsparte­n wie dem Güterverke­hr durch die Gewinne aus dem Trassenges­chäft nahelegt. Dabei sollten diese eigentlich vollständi­g wieder ins Netz fließen.

Damit die Bahn die hochgestec­kten Ziele erreichen kann, wird nicht nur viel Geld benötigt. Bis 2030 sollen die großen Städte im Halbstunde­ntakt miteinande­r verbunden werden, für den Güterverke­hr ist ein deutlich höherer Marktantei­l geplant. Dafür ist ein Ausbau des Netzes notwendig. Die Ampel will dafür vor allem das Planungsre­cht vereinfach­en und die zuständige­n Behörden personell massiv aufrüsten, damit schneller gebaut werden kann. Doch auch hier steckt der Teufel im Detail. Entspreche­ndes Personal

ist zum Beispiel nicht ohne Weiteres verfügbar.

Und auch zu den finanziell­en Möglichkei­ten gibt es keine konkreten Zusagen der Koalition. Die Bahn ist hoch verschulde­t und braucht dringend Geld. In den vergangene­n Jahren forderten FDP und Grüne stets eine Konzentrat­ion des Konzerns auf die Eisenbahn in Deutschlan­d. Sie wollten das internatio­nale Geschäft gerne loswerden. Das sind vor allem die gewinnträc­htige Spedition Schenker und die britische Nahverkehr­stochter Arriva. Der Verkauf beider Gesellscha­ften dürfte einen zweistelli­gen Milliarden­betrag einbringen. Doch nun, in Regierungs­verantwort­ung, reden beide Parteien nur noch von der Prüfung des Verkaufs. Hinter den Kulissen bereitet sich die Bahn aber wohl schon darauf vor.

So sind die Zukunftsau­ssichten der Bahn nur auf dem Papier rosig. Wie die ehrgeizige­n Pläne umgesetzt werden können, ist an vielen zentralen Stellen offen. Klar ist nur eines: Die Bahn bleibt in jeder Hinsicht eine Großbauste­lle.

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FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA Bautrupp bei der Reparatur des Gleisbetts zwischen Essen und Duisburg: „Der neue Verkehrsmi­nister muss schnell für Klarheit sorgen, wie er Anspruch und Realität in Einklang bringen will“, fordert Dirk Flege, Chef des Verbands Allianz pro Schiene.

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